Stadtfragen: Kurvendiskussion

Authentizität ist in der Wahrnehmung und Beurteilung von Architektur en vogue. Was hat das Zauberwort nun tatsächlich mit Qualität zu tun? Und worin zeigt sich diese? Natürlich an der qualitativ einzigartigen aber engen Spitze der Architekturproduktion: Dort, wo der Spagat zwischen Individualismus von Autor/innen, den Wünschen des Bauherrn und der Einzigartigkeit einer Bauaufgabe gerade noch gelingt, bevor narzistische Verlockungen medialer Aufmerksamkeit zum inhaltlosen Absturz führen.

Diagramm: Stadtfragen 2011: X-Achse=Beziehungsqualität; Y-Achse=Authentizität.

sta. Im Medienzeitalter interessieren Köpf mehr als Inhalte – Mediokratie könnte man das Phänomen nennen (Meyer). Dann, wenn das Denken, Handeln und Mitteilen in der Politik und in der Verwaltung nach den Spielregeln der Medien passiert: Im Zentrum steht dann die Person, ihre aussergewöhnliche Idee, ihre Glaubwürdigkeit, Qualität und der Mehrwert ihrer Einzigartigkeit. Das Zauberwort dazu heisst “Authentizität”. Als politisch glaubwürdig und mächtig gilt, wer ausdrücklich von sich spricht. Peter Schneider hat dies im Tagi vom 22.10.08 so kommentiert: “Die öffentliche Sphäre wird auf diese Weise privatisiert bzw. psychologisiert. Statt mehr Worte gibt es mehr Selbst.” Kritisch ist diese Tendenz deshalb, weil je authentischer (d.h. identischer mit sich selbst) das Handeln und Auftreten ist, desto leerer ist es. Nachrichten und Entscheidungen aus der Politik drohen deshalb im Zustand der Mediokratie zu einem narzistischen Austausch zu werden. Jeder und jede versteht eigentlich nur noch sich selbst. Diese Art der Selbstdarstellung geniesst zwar die öffentliche Wahrnehmung, Präsenz und damit den Erfolg, sie bleibt jedoch beziehungsunfähig.

Macht zuviel Ego gute Architektur blind?

Stimmt die Diagnose der Mediokratie auch für das Denken, Entwerfen, Bauen und Vermitteln von Architekur und Stadt? Der weitgehend auch medial begründete Aufstieg der globalen Architekturstars, scheint zumindest nicht dagegen zu sprechen. Die viel zitierte und geforderte Authentizität im Entwurf und in der Beurteilung von Architektur macht deshalb möglicherweise nicht nur berühmt. Sie kann auch zur Bedrohung werden. Wer Architektur denkt, entwirft und baut und dabei einseitig auf den narzisstischen Austausch mit sich (oder einem engen Kreis von Gleichgesinnten) setzt, neigt zur Beziehungsunfähigkeit kann die Betrachter des Resultats narzisstischer Selbstverwirklichung sogar blind machen! Beispiele dafür, dass sich Architekten, Bauherren, Vertreter von Firmen CI’s und Markenkwerten explizit auf sich selbst beziehen und dadurch mediale Aufmerksamkeit geniessen können oder müssen, gibt es zuhauf. Sprachlich stehen dafür Begriffe  wie Autoren-Architektur, Marken-Architektur oder Coporate Architecture. Achtung: Gegen berühmte Architekten und ihre Werke ist nichts einzuwenden! Dennoch gilt es, abzuklären, an welchem Punkt die Forderung und das Verlangen nach Authentizität in der Architektur, so etwas wie der Spagat zwischen Qualität und Individualismus, in eine Richtung kippt, wo sie hauptsächlich beziehungslose Selbstdarstellung oder im Auge des Betrachters vor allem Leere hervorbringt.

Kurvendiskussion_traum

Versprechen am Marketinghimmel

Wie verhält es sich also mit der Behauptung, dass Architektur umso stimmiger und besser wird, je authentischer sie dem Ort, den Ideen des Architekten, den Vorgaben der Unternehmenswerte entspricht? Die lineare Steigerung ins Unendliche, das Versprechen zum linearen Weg in den Architekturhimmel des Marketings, gibt es nicht (vgl. Diagramm). Allein schon deshalb nicht, weil die Diskussion zwischen Architekt, Bauherr, Behörden und Unternehmer dem Wunsch nach uneingeschränkter Selbstverwirklichung im Weg steht. Vielleicht führt die Kurvendiskussion, die sich der architektonischen Qualität als Beziehungsqualität zwischen Entwerfer und Betrachter in Abhängigkeit vom Anteil des vom Autoren eingesetzten Individualismus bzw. seiner Authentizität eher zu folgender Einsicht: Dort, wo die Spitze der Architektur ihre seltenen Beispiele hervorbringt, haben es die am Bau Beteiligten aussergewöhnlich gut geschafft, die Einzigartigkeit und potentielle Authentizität einer Bauaufgabe nicht a priori dem Architekten zu überlassen. sondern im Prozess der Zusammenarbeit zu finden. Jede Spitze die Eigenschaft, beschränkt Platz anzubieten. Deshalb bleibt die Spitze dieser Art von Architekturproduktion nur wenigen vorbehalten.

Mediale Niederlage

Kommt hinzu, dass nicht nur Bergsteiger wissen: An der Spitze ist die Luft dünn, Orte oft einsam, es droht der Absturz. Auf dem Gipfel architektonischer Authentizität kann dieser Ort in die Einsamkeit und auf der Gegenseite in die Inhaltsleere und Blindheit der Betrachter führen. Wenn dem so ist, dann ist die Ausrichtung der Architektur auf die Regeln der personalisierten Medienwelt vielleicht sogar noch eine Abkürzung dorthin, wo die Beziehungsqualität vollends verkümmert. Es gilt dann lakonisch auszurufen: “Weniger Architektur, noch mehr Architektinnen und Architekten, Autorinnen und Autoren und Künstler”. Diese Entwicklung passt zur Beobachtung in der Mediengesellschaft, dass Architektinnen und Architekten und die Architektur als Mehrwert noch nie so präsent waren. Das muss nicht schlecht sein, wenn die Beziehungsqualität nicht ausschließlich darin gemessen wird. Denn sonst wird der Gipfelsturm der Authentizität zur Niederlage. “Der Sieg der medial auftrumpfenden Architektur ist ihre bitterste Niederlage”, wie Gerhard Matzig von der Süddeutschen Zeitung dazu einmal gesagt hat (HPT, 11/2008)