New York vor dem Lockdown: Erinnerung an eine kurze Begegnung mit Rem Koolhaas.

Der erste Kuss, zum ersten Mal Sex, die letzte Zigarette: Besondere Momente im Leben bewerten wir im Rückspiegel gewöhnlich weitaus höher, als sie es verdienen. Deshalb vergessen wir sie selten bis nie, und wir berichten immer wieder darüber – natürlich mehr oder weniger wahrheitsgetreu und gerade so, wie es das anwesende Publikum von uns erwartet. Auch Krisen sind besondere Momente im Leben, zum Beispiel Corona, keine Gesundheits-, eher eine Umweltkrise: In Wellen zieht sie um die Welt und verlangt von uns neue Verhaltensregeln: «The Handshake is on Hold», titelte die New York Times am 6. März 2020. Händeschütteln befindet sich seither tatsächlich in einer Art gesellschaftlicher Warteschlaufe – ohne einen Endtermin. Also haben wir uns alternative Lösungen angeeignet: Lächeln, den Blick in die Augen, die zaghafte Faust und der sperrige Ellbogen-Kick, sie sind der neue Handschlag. Das letzte Händeschütteln vor Corona ist eine Erinnerung.

Es ist der 20. Februar 2020 in Manhattan, NYC. An der 50th Street 218 West liege ich um neun Uhr morgens noch immer im Hotel citizenM auf einem Kingsize Bett und blicke durch das zimmerbreite Panoramafenster auf die Stadt, die niemals schläft, und die sich mir heute im Morgenlicht ausbreitet. Sofort geht mir eine Filmszene durch den Kopf: Genauso muss sich Scarlett Johansson alias Charlotte beim Dreh der ersten Filmsekunden für Lost in Translation (2003) in Tokio gefühlt haben. Verträumt wie die im richtigen Leben damals 17-jährige Schauspielerin, staune ich über die DNA des Großstadtdschungels: Shops, Theater, Kinos, Restaurants, Büros und unbezahlbare Wohnungen sind schier endlos zu Blocks und Hochhäusern aneinandergereiht und übereinander gestapelt. Dazwischen zwängen sich Räder, Motoren, Vier- und Zweibeiner im Schachbrettmuster durch Strassenschluchten. Die Rückseite des Times Square, auf die blicke, wirkt im Morgenlicht der ersten Sonnenstrahlen irgendwie friedlich.

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Scarlett Johansson blickt im Film Lost in Translation auf Tokio, 2003 / Screenshot

Mein Tagtraum endet abrupt. In meinem Leben hier in New York sind die Rollen anders verteilt, als in der Filmszene vor der Stadtkulisse in Tokio. Ich liege nicht leicht bekleidet im Schaufenster der Grossstadtdschungels, weil ich mich wie Charlotte langweile. Und ich habe auch keinen Fotografen wie John in Lost in Translation als Begleitung, der ungeduldig im Hotelzimmer herumturnt. Ich bin in diesem Hotelzimmer, weil ich ein Tagesziel habe: Wie am ersten Schultag freue ich mich auf die Eröffnung der Ausstellung «Countryside, The Future» im Salomon R. Guggenheim Museum. Und das ausgerechnet in New York, der Stadt, die in Spielfilmen, Serien, Videoclips, Fachbüchern, Songs, Comics und Romanen tausendfach dargestellt, besungen, heimgesucht, vernichtet und in den meisten Fällen auch wieder gerettet wurde. Wer auf Nummer sicher gehen will, muss deshalb nicht unbedingt selbst hingehen, um sie, die Stadt, die niemals schläft, gesehen zu haben. Ich erinnere mich besonders gerne an die Lektüre der Comicversion von Paul Auster’s Roman Stadt aus Glas. Darin scheitert der Krimischreiber Quinn auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens an der brüchigen und mannigfaltigen Realität dieser Stadt New York. 

Für mich wird es ein guter Tag. In Midtown Manhattan ist es frühlingshaft warm. Auf meinem Weg zum Museum ist es unwahrscheinlich, dass ich mich wie Auster’s Romanfigur Quinn zuerst in Gedanken und dann im urbanen Schachbrettmuster verliere. Schliesslich suche ich das Guggenheim auf, nicht nach dem Sinn in meinem Leben. Wie immer bewegen sich die Menschen, die geschäftlich unterwegs sind, heute schneller als die Tourist:innen und Stadtneurotiker. Ich schätze, dass die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit näher bei acht, als bei fünf Kilometern pro Stunde liegt. Vielleicht irre ich mich auch, denn: Gemäss einer Studie der Universität Hertfordshire lag New York 2007 im Hektik-Ranking unter 32 Metropolen lediglich auf Platz zehn. FussgängerInnen benötigten damals durchschnittlich zwölf Sekunden für knappe 20 Meter Distanz, was sechs Kilometern pro Stunde entspricht. In Singapur, in der Studie die Stadt auf Platz eins, waren es elf Sekunden oder sechseinhalb Kilometer.

Salomon R. Guggenheim Museum an der 1071 Fifth Avenue / Stadtfragen Februar 2020

Auf dem Weg zum Museum passt sich mein Tempo den Geschäftigen an. Ich treffe deshalb viel zu früh an der 1071 Fifth Avenue ein, dank einem unerwarteten Zufall gleichzeitig mit dem Star der Show. Rem Koolhaas, gross gewachsen und schlank, tritt kurz nach mir im Guggenheim ein. Mit grimmiger Miene passiert er die Drehtür, die schlechte Morgenstimmung ist ihm anzusehen. Der Niederländer wurde 1944 in Rotterdam geboren und international bekannt als Journalist und Autor («Delirious New York», «S,M,L,XL»), sowie als Professor für Architektur und als Gründer des Office for Metropolitan Architecture, kurz OMA. In der Lobby des Guggenheim ist er von einer Schar junger, gut gekleideter Menschen umzingelt. Sie tragen lange Kleider und Mäntel, dazu umso kürzere Hosen. Die Corporate Colour der Entourage ist Schwarz. Das Museumspersonal macht einen aufgeschreckten Eindruck. In der allgemeinen Hektik lasse ich meine Chance auf ein unvorhergesehenes Interview mit dem Träger des Pritzker-Preises, intuitiv richtig, noch ungenutzt. Schlecht gelaunte Stars können unangenehme Interviewpartner sein. Übrigens: Den Pritzker, höchste Auszeichnung in der Welt der Architektur, erhielt Rem Koolhaas nicht zufällig im Jahre der Jahrtausendwende und zudem ein Jahr vor dem Schweizer Architektenduo Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Preise stellen unklare Rangordnungen richtig.

Eine halbe Stunde vor Einlass in das berühmte Museumsgebäude, das von Frank Lloyd Wright entworfen und 1959 eröffnet wurde, stehen gleichzeitig mehrere hundert Menschen in der Schlange: eine zufällige, temporäre Gemeinschaft aus Medienschaffenden, Gästen, Zugewandten und guten Freunden. Ich bin für die Medieneröffnung akkreditiert und begrüsse meine Kollegin von der NZZ mit einem kräftigen Händedruck. Damals, am Morgen des 20. Februar, löste diese Begrüssung noch ein vertrautes Gefühl aus – keine Vorsicht, keinerlei Bedenken. Wie sich herausstellen wird, war dies mein zweitletzter Handshake vor Corona. Am Desk ist die Begrüssung dann distanzierter aber auf amerikanische Art freundlich: «Ah, Thomas from Switzerland, nice to meet you!». Nach der anschliessenden, einstündigen Vorlesung durch den Meister, offensichtlich ist er nicht grimmig aufgelegt, sondern einfach nur erkältet, ist es für mich an der Zeit, «Countryside, The Future» mit meinen eigenen Füssen und Augen zu erkunden. Salopp erzählt, geht es darin um das globale Investieren, Planen und Bauen ausserhalb der Städte sowie um die mahnende Botschaft an ExpertInnen und an die Politik: In Zeiten des Klimawandels müsst ihr die Augen vermehrt auf die Landschaft richten! Passend dazu fängt die Ausstellung mit Rem Koolhaas als Wanderer in den Schweizer Bergen an. Was er dort über Jahre beobachtet hat, hat ihn dazu bewegt, sich mit seiner gut vernetzten und geballten Gestaltungs- und Meinungskraft für einmal der Stadt ab- und der Landschaft, der Countryside, zuzuwenden. Die spiralförmige Rampe im Guggenheim führt die Besuchenden mit drei Prozent Steigung kontinuierlich um das Atrium herum bis nach oben zu einer Glaskuppe. Dort am Endpunkt von Koolhaas’ Geschichte angekommen, bin ich mit Bildern von Plänen, Texten, Modellen, Plakaten und Fotografien aus verschiedenen Zeitepochen und Weltgegenden übervoll. Das offizielle Zeitfenster für Interviews habe ich ebenfalls verpasst.

Auf der Rampe des Guggenheim kam es zum letzten Handschlag vor dem Lockdown / Stadtfragen 2020

Auf dem Rückweg nach unten schweife ich gedanklich ab. Zur Entspannung erinnere ich mich daran, wie Interpol-Agent Louis Salinger (Clive Owen) im Film The International (2009) und zwei Detektive des NYPD einem Killer in das Guggenheim Museum gefolgt sind und sich dort auf eine wilde Schiesserei mit einem dunkel gekleideten Killerkommando eingelassen haben. Im Film bleiben Schutt und Asche sowie ein paar Leichen zurück. Ich biege gerade in die letzte Kurve der Rampe ein, als ich aus meinem Filmtraum aufwache: Vor mir taucht eine Gruppe grosser, schwarz gekleideter Menschen auf. Realität oder Fiktion? Die Männer sind (glücklicherweise) unbewaffnet, und ihre eher kurz geschnittenen, langen Hosen kommen mir sofort bekannt vor. Geistesgegenwärtig im Hier und Jetzt angekommen, packe ich die zweite Chance für ein Interview, die sich mir an diesem Tag bietet: «Rem Koolhaas, nice to meet you!». Im Small Talk erzähle ich dem 76-jährigen davon, dass 20 Jahre vergangen sind, seit wir uns am Architektursymposium in Pontresina zuletzt begegnet sind. In Konferenzen und Kamingesprächen im Hotel Saraz diskutierten die Architekten damals, in welchen Seilschaften sie sich dem Phänomen der Globalisierung stellen sollten: «YE$» , die Abkürzung für die Dreifaltigkeit der globalen Währungen Yen, Euro und Dollar, lautete damals die programmatische Antwort von Rem Koolhaas. In den ausgehandelten zehn Minuten für das Interview stelle ich meine Fragen, gut schweizerisch auch die Ricola-Frage: «Die Idee zur Ausstellung kam Ihnen in den Schweizer Bergen. Weshalb sollen Schweizer ArchitektInnen die Ausstellung besuchen?»

Die Antwort auf die Frage ging vergessen. Von der Begegnung mit dem grossen Niederländer bleibt mir der spontane und feste Händedruck zum Abschied umso besser in Erinnerung: Mein letzter Handshake vor Corona. Er ist es bis heute geblieben. Um ganz sicher zu sein, habe ich in meiner Agenda nachgeforscht: Es war der 20. Februar 2020. Auf dem Weg zurück in mein Hotel gab es keinen Handshake mit dem Taxifahrer. Dem aufdringlichen Imitator von Donald Trump, der mir vor dem gleichnamigen Büroturm an der 5th Avenue auflauert, verweigere ich meine Hand ebenso. Er wollte dafür five Bucks, Erinnerungsfoto inklusive. Nach der Rückkehr in die Schweiz ist es Ende Monat, die noch verbliebenen Termine im Kalender sind abgesagt, auch die Anschlussreise zur Besichtigung des Geländes der Expo 2020 in Dubai ist storniert. Es ist der 28. Februar an dem der Bundesrat die Situation in der Schweiz als «besondere Lage» einstuft. Am 11. März spricht die WHO offiziell von einer weltweiten Pandemie. Fünf Tage danach befindet sich die Schweiz in einer ausserordentlichen Lage: «Lockdown». Nur knapp verpasse ich den letzten professionellen Haarschnitt für Monate.

In einem Händedruck kann man sich verlieren. Das ist mir im Guggenheim tatsächlich passiert. Die Umweltkrise Corona wollte es zudem so, dass ich seit dem Kurzinterview mit Rem Koolhaas meine Hände nicht mehr geschüttelt, jedoch umso regelmässiger und gründlicher gewaschen habe. Ganz einfach deshalb, weil es so sein muss. Dabei gäbe auch noch andere Gründe als die Pandemie, den Händedruck zu unterlassen, weil er ebenso entlarvend und gefährlich sein kann, wie ein Gespräch unter vier Augen. Aber auch Händewaschen ist nicht risikofrei: Wer sich die Hände reinigt, spült nämlich das Vertrauen in sein Glück ab, das sagen sogar Psychologen und Verhaltensforscher, die sich wissenschaftlich mit der Sache befasst haben. Und von Shakespeare’s tragischer Figur Lady Macbeth wissen wir, dass Menschen zu übertriebener Reinlichkeit neigen können, um sich mit einer symbolischen Ersatzhandlung moralisch reinzuwaschen, was aber letztlich nicht gut endet, auch wenn es nicht gerade, wie bei Shakespeare, um Mord geht.

Wie auch immer wir Händeschütteln und Händewaschen handhaben: Auf Distanz und mit viel Seife haben es Sars-Covid19 und allerlei Bakterien medizinisch nachweisbar schwerer, in Handflächen dauerhaft Fuss zu fassen oder von da aus ungefragt weiterzureisen. Soweit so gut. Früher oder später wird es in der neuen Realität trotzdem wieder zum Handschlag kommen. In meinem Lebenslauf wird es der erste seit dem 20. Februar 2020 werden. Hoffentlich bleibt mir bis dann das Glück erhalten, für diesen besonderen Moment wiederum eine spezielle Begegnung an einem speziellen Ort aussuchen zu können.

Rem Koolhaas / Bild zVg 2011