Norwegens Hauptstadt verwandelt sein Hafenviertel in ein neues Trendquartier: 9’000 Wohnungen, 50’000 Arbeitsplätze, dazwischen allerlei Kunst und Kultur sollen bis 2045 entstehen. Der ehemalige Containerhafen Bjørvika bildet das Herzstück des Projekts. Was passiert, wenn ästhetisierte Stadtpolitik, Kulturalismus und Immobilienspekulation Hand in Hand gehen? Ein Versuch, die Puzzleteile dieser beeindruckenden Transformation zu identifizieren und den Charakter des neuen Stadtquartiers zu fassen. Ein Gastbeitrag von Lucas Caluori.

Titelbild: Blick von Bjørvika auf den noch bestehenden Hafenteil, im Hintergrund Holmenkollen, Oslos berühmte Skisprunganlage.

Sonntag, 29. August 2021, früher Nachmittag.

Ein prächtiger Spätsommertag, 25 Grad und kaum eine Wolke über dem Osloer Fjord. Im Sørenga Freibad liegen spärlich bekleidete Körper dicht an dicht nebeneinander, versuchen jeden Sonnenstrahl einzufangen; sie wollen sich den Vorrat an Vitamin D für die anstehende sonnenrare Herbst- und Winterzeit anlegen. Von den Sprungtürmen her hört man freudiges Geschrei, norwegische und englische Sprachfetzen vermischen sich mit dem Plantschen des Wassers und untermalen die Szenerie akustisch. Entlang der Promenade schlendern Jung und Alt, Paare und Familien, Touristinnen und Touristen mit Nikkon-Fotokameras und Einheimische mit Oakley-Sonnenbrillen, während sich vor der Gelateria PARADIS eine lange Schlange bildet. Ein Hauch italienische Riviera ist auszumachen, auch wenn die nordländische Ordnungsliebe und die sichtbar strengen Regularien jeglichem südländischen Flair die Authentizität nehmen. Entsprechend kühl wirkt auch das mexikanische Restaurant, das an bester Lage Ceviche und Tequila serviert und mit Sombreros für die Kinder wirbt. Seiner Beliebtheit tut dies aber keinen Abbruch, wie ein Blick auf die Buchungsseite des Restaurants zeigt: Ein freier Tisch für ein Abendessen ist erst in drei Tagen verfügbar.

Das Sørenga Freibad am Kap des Bjørvika-Quartiers hat sich nach seiner Eröffnung 2015 schnell zu einem Treffpunkt für Sonnenhungrige und Badefreudige entwickelt. Kein Wunder: Die Aussicht bietet meerwärts idyllisches Inselpanorama und landwärts Silhouetten modernster Stadtarchitektur; die aus Kebony-Holz gefertigten Badeplätze mit integrierten Liege- und Sitzmöglichkeiten laden zum Verweilen ein und auch die Wassertemperatur liegt an diesem Augusttag noch weit über der (norwegischen) Schmerzgrenze. Öffentlich und barrierefrei zugänglich, mit gratis Duschen, 50-m-Schwimmbecken und einem Sandstrand für Kinder, verkörpert das Bad die Vision der Osloer Fjord City exemplarisch: Attraktiv, innovativ und für alle zugänglich, so soll das neue Oslo sein. Seine Anfänge nahm das Erneuerungsprogramm Fjord City in den 1980er Jahren mit dem Architekturwettbewerb «The City and the Fjord – Oslo Year 2000». Im Jahr 2000 traf Oslos Stadtverwaltung die Entscheidung, die ehemalige Hafenstadt in eine Fjordstadt zu verwandeln. 2008 folgte mit der Verabschiedung des Fjord City Plans die politische und planerische Legitimation des Vorhabens. Die ersten Bauprojekte waren zu dieser Zeit bereits fertiggestellt – als symbolträchtigstes das vom norwegischen Architekturbüro Snøhetta entworfene Opernhaus. Fertiggestellt im Jahr 2007, ist das Gebäude heute, mit seiner inzwischen etwas ausgebleichten weissen Carrara-Marmor Fassade und dem als öffentlich begehbaren Platz gestalteten Dach, das neue Wahrzeichen Oslos. Dahinter steckte geschicktes Kalkül, denn der prestigereiche Bau, fertiggestellt unter Budget und in Rekordzeit, hatte eine durchaus geplante, positive Signalwirkung für die ganze Fjord City; das neue Opernhaus verlieh dem Jahrhundertvorhaben neue Dynamik. Mit 228 Hektaren, einer Promenadenlänge von über neun Kilometern und rund 2.1 Mio. Quadratmeter Neubauflächen ist das Stadtentwicklungsprojekt im nordeuropäischen Kontext beispiellos. Das am östlichen Küstenende gelegene Bjørvika-Quartier ist sein Herzstück; neben der Oper beheimatet es die neue öffentliche Zentralbibliothek Deichmanske, das Businessviertel Barcode sowie das im Herbst 2021 eröffnete Munch-Museum. Rund 20’000 Arbeitsplätze und 5’000 Wohnungen sind in Bjørvika auf einer Fläche von 75 Hektaren vorgesehen, hauptsächlich entwickelt von öffentlich-privat organisierten Investorengruppen. Mit dieser potenziell explosiven Mischung aus neoliberalem Unternehmergeist und sozialem Kulturalismus will es Oslo schaffen, sich auf die globale Bühne des high-profile Urbanismus zu hieven.

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Bjørvika mit dem Munch-Museum, im Hintergrund das Areal Barcode, links die Oper

Ein Spielplatz für Kunst und Architektur

Bjørvika bildet nicht nur inhaltlich das neue Kernstück Oslos, auch optisch dominiert das Areal seine Umgebung: Am nördlichen Ende des Quartiers, nahe des Osloer Hauptbahnhofes, bilden zwölf Hochhausbauten die neue Skyline. Der Masterplan hierzu stammt aus der Feder von MVRDV, Dark und A-lab. Ihren Vorgaben folgend, wurde das Areal entlang der avenueartigen Hauptstrasse in schmale Baufelder eingeteilt – daher der Übername Barcode – und diese danach für die Bebauung den Ideen unterschiedlicher Architekturbüros überlassen. Das Resultat ist imposant und gleicht einem Spielplatz für die Architektur, der zu einem Stück Stadt mit internationaler Ausstrahlung geworden ist. Die erhoffte Wirkung wurde nicht verfehlt: Firmen wie PWC, Deloitte oder die grösste norwegische Bank DnB haben sich nicht nur Büroräumlichkeiten, sondern auch gleich die Namensrechte an den Turmbauten gesichert. Als Entwicklerin agierte die Oslo S Utvikling AS, ein norwegisches Immobilienunternehmen, an dem sowohl private wie öffentliche Akteure beteiligt sind.

Nicht weniger eindrücklich steht, nur wenige Schritte von Barcode entfernt, das neue Munch-Museum. Entworfen und gebaut durch das deutsch-spanische Architektenduo Jens Richter und Juan Herreros (Estudio Herreros), thront der dreizehngeschossige Bau auf einer Halbinsel direkt am Wasser. Das Gebäude beherbergt nebst dem umfangreichen Nachlass Edvard Munchs auch einen Kinosaal, ein Amphitheater, ein Café sowie ein Restaurant mit spektakulärer Aussichtsterrasse. Der Turm ist ein Denkmal, eine architektonische Ehrung des norwegischen Ausnahmekünstlers, mit identitätsstiftender Wirkung für die ganze Nation. Die geknickte Gebäudeform wird gerne als eine Geste der Würdigung interpretiert: «eine respektvolle Verbeugung vor der Oper, der Stadt und der Kunst an sich», wie Museumsdirektor Stein Olav Henrichsen sich zitieren lässt. Unmittelbar vor dem Munch-Museum soll noch in diesem Jahr eine neun Meter hohe Bronze-Statue der britischen Künstlerin Tracey Emin enthüllt werden. Hergestellt in London, wird die Statue per Schiff nach Oslo gebracht und vor Munchs neuer Heimat platziert. Komplettiert wird Bjørvikas Gebäudeensemble von der im Jahr 2020 eröffneten Bibliothek Deichmanske, die zwischen dem Opernhaus und dem Hauptbahnhof steht. Der kristallartige, von Lund Hagem und Atelier Oslo entworfene Bau bietet auf sechs Etagen nicht nur freien Zugang zu über 450’000 Büchern, sondern auch Nähmaschinen, Musikinstrumente und 3D-Drucker.

Es ist beeindruckend, in welchem Ausmass und in welcher Geschwindigkeit es Oslo geschafft hat, das ehemalige Werftenviertel in einen futuristisch anmutenden architektonischen Themenpark, prallgefüllt mit Kunst und Kultur, zu verwandeln. Natürlich bleibt bei diesem ambitiösen Vorhaben die öffentliche Kritik nicht aus. So wird an den Barcode-Türmen insbesondere ihre abschottende Wirkung zum gegenüberliegenden alten Stadtteil, dem multikulturell geprägten Quartier Grønland, bemängelt. Und die graue Fassade des Munch-Museums wurde in der Lokalpresse auch schon, wenig respektvoll, mit einer Lärmschutzwand oder einer Leitplankensammlung verglichen.

Blick vom Dach der Oper auf das Barcode-Areal

Samstag, 20. November 2021, vormittags.

Das Barcode-Areal wirkt ausgestorben, die Räumlichkeiten der Hochhausbauten liegen im Dunkeln, nur aus einem Covid-Test-Container dringt Licht. Der Bedarf am Testangebot scheint bescheiden, auch die Apotheke nebenan wartet vergebens auf Kundschaft. Eine Querstrasse weiter nutzt ein Paar die kubisch geformte Fassade als Hintergrund für ein Fotoshooting. Ganz anders ist die Stimmung beim Querdurchgang Akrobaten, der Brücke, die das Gebiet über die Geleise hinweg in Richtung Grønland und hin zum Meer verbindet; eine Schar Kinder mit ihren Eltern versammelt sich hier – ein Samichlaus hat Geschenke bereit und lockt damit die Massen an. Gegenüber auf dem Edvard Munchs Plass herrscht ebenfalls reges Treiben; unter Pavillons singt sich ein Weihnachtsensemble warm, Kinder stehen Schlange, um sich das Gesicht mit Schminke verzieren zu lassen. «Julefest» – Weihnachtsfest – ist auf einer Tafel mit Programmhinweisen zu lesen.

Wie hat es Oslo – eine Stadt mit überraschend wenig Historie – geschafft, politische und ökonomische Hürden mit einer beneidenswerten Leichtigkeit hinter sich zu lassen und sich einen so modernen, urbanen Imperativ zu verpassen? Jonny Aspen, Professor für Urban Theory an der Architektur- und Designhochschule Oslo, weist bei der Beantwortung dieser Frage den öffentlichen Räumen eine entscheidende Rolle zu: «Planer und Entwicklerinnen setzen die Bedeutung und die Qualitäten des öffentlichen Raums bewusst ein, um ein zukünftiges Projekt zu legitimieren und zu branden.» Insgesamt sieben öffentliche Plätze – gestaltet nach einem Programm des dänischen Studios Gehl Architect – sind in Bjørvika vorgesehen, drei davon wurden bereits realisiert. «A great gathering place for events that will create liveliness and activity», wird einer der Plätze im Bauprogramm imaginiert. Hochglanz-Visualisierungen illustrieren dieses Narrativ, indem sie eine romantisierte Stadtszenerie zeigen, ohne jegliche Konfliktsituationen, ohne Dreck oder Müll, ohne Merkwürdigkeiten. Aspen hat die Bedeutung der Inszenierung urbaner Räume in Oslo in einem 2013 publizierten Buchkapitel untersucht. Dabei, so Aspens Analyse, folge die Gestaltung öffentlicher Plätze falschen Vorstellungen und veralteten Sozialtheorien – was zu einem, wie er es in Anlehnung an den Soziologen Ulrich Beck nennt, «Zombie-Urbanismus» führe.

Auf einem Stadtspaziergang mit Jonny Aspen

Ich treffe mich mit Jonny Aspen bei der Bibliothek Deichmanske. Auf einem Rundgang durch das Quartier veranschaulicht er seine Überlegungen. Aspen sieht die von den Planenden angestrebte Vision als verwirklicht und bestätigt, dass das Gebiet sehr gut funktioniere: Die Wohnungen sind trotz stattlicher Preise begehrt und auch die Gewerbeflächen fast lückenlos vermietet. Zudem lockt das Gebiet Einheimische und Touristen gleichermassen an – sei es um in den Boutique-Läden einzukaufen, für einen Restaurantbesuch oder einfach um das verwinkelte und von Wasserwegen perforierte Quartier zu entdecken. Er sei auch selbst gerne hier, meint Aspen ohne jegliche Gefühlsregung. Ein Lieblingscafé habe er jedoch nicht, und so führt er uns in die nächstgelegene Kaffebrenneriet – eine norwegische Kaffeehauskette nach westamerikanischem Vorbild. «Die haben qualitativ guten Kaffee und faire Preise», meint Aspen und bestellt sich einen Filterkaffee. Im anschliessenden Gespräch bringt Aspen zum Ausdruck, worin seine spürbaren Vorbehalte gegenüber der Entwicklung Bjørvikas liegen: «Viele der Bereiche hier wurden für kommerzielle Aktivitäten entwickelt, man muss sich in ein Café setzen und eine Tasse Kaffee für fünfzig Kronen kaufen». Es hat eine starke politische Note, wenn Aspen die Instrumentalisierung öffentlicher Räume zur Legitimierung und Vertuschung ökonomischer Interessen anprangert. «Die sanfte und poetische Referenzwelt der Illustrationen», so Aspen in seiner Kritik, «hebt sich als heilsamer und radikaler Kontrast zur härteren Pragmatik und Politik der Stadtsanierung in diesem Gebiet im Allgemeinen sowie zur knallharten wirtschaftlichen Logik und Rhetorik der Grundstückseigentümer und Immobilienentwickler im Besonderen ab». Auch in der Frage, ob Oslo damit seine lange Tradition sozialer Segregation entgegenwirke, zeigt sich Aspen wenig zuversichtlich; Diversität sei zwar ein gerne verwendetes Schlagwort, tatsächlich ziele das Gebiet aber – abgesehen von einigen Wohnungen für Studierende – auf eine obere Mittelschicht ab. Gleichzeitig werde den teils prekären Wohnkonditionen im Osten Oslos, welcher traditionell von der sozialen Unterschicht bewohnt wird, wenig entgegengewirkt. «Die öffentlichen Gelder, die zur Entwicklung dieses Gebietes bereitgestellt wurden, wären meiner Meinung nach besser zur Verbesserung der Lebensbedingungen im östlichen Teil Oslos eingesetzt worden. Anstelle der neuen Zentralbibliothek hätte man beispielsweise auch in kleinere Bibliotheken in den Quartieren investieren können.» Während man den Stadtplanenden Oslos attestieren könnte, ein gutes Händchen für die richtige Mischung aus Gentrifizierungsdrang, Inklusion und Kulturförderung zu haben, glaubt Aspen in dieser Strategie eine hinterhältige Scheinheiligkeit zu erkennen. So kann er sich auch für das neue Munch-Museum nur verhalten begeistern; obwohl ihm das eigenwillige Gebäude, insbesondere seine matte Farbgestaltung, gefällt, hat er dem neuen Kunsttempel noch keinen Besuch abgestattet.

Stadt für wen? Eine Begegnung mit Pächter und Anwohner Nuno

Aspens Urteil geht mit der klassischen Gentrifizierungskritik einher. Sie mag eine politische Gesinnung widerspiegeln. Dennoch offenbart er mit seiner Analyse einen wunden Punkt in Oslos Strategie, der, geblendet von der eindrücklichen baulichen Entwicklung, gerne übersehen wird: Norwegen wurde dank der Ölwirtschaft zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt, der norwegische Staatsfond ist mit einem Vermögen von 1’042 Mrd. Euro der grösste der Welt. Rund 1,5 % aller Aktien weltweit gehören dem Land, das mit seinen 5.5 Mio. Einwohnenden gerade mal 0.07 % der Weltbevölkerung beheimatet. Trotz der beinahe uneingeschränkten Mittel, die Norwegen damit zur Verfügung stehen, setzt Oslo mit seinem neuen Hafenquartier nicht auf die Schliessung der sozialen Schere – sondern schafft noch mehr Raum für Spekulation und kapitalistische Akkumulation. Davon profitieren finanzstarke Akteure – beispielsweise die global tätigen Unternehmen, die sich im Barcode einen neuen Hauptsitz leisten können –, auf Kosten der sozial Schwächeren, für die das Leben im neuen Trendquartier unerschwinglich wird.

Einer, der diese Strategie direkt zu spüren bekommt, ist Nuno Carvalho. Geschätzt Mitte 30, ursprünglich aus Lissabon und aufgewachsen in Zürich, kam er vor 14 Jahren nach Oslo, wo er sich als Grafikdesigner und Bäckereimitarbeiter sein Einkommen verdiente. Vor vier Jahren eröffnete Nuno die Dock Espressobar, gelegen an der Promenade von Bjørvika mit Aussicht auf das Munch-Museum und die Fjordinseln. «Zeit habe ich, es ist ja nichts los heute», antwortet Nuno etwas verlegen auf die Frage, ob er mir seine Einschätzung zum Gebiet preisgeben würde. Er sollte Recht behalten – während dem rund einstündigen Gespräch betritt kein einziger Gast sein Lokal.

Das Café bietet rund zwanzig Sitzplätze im Innern und etwa doppelt so viele auf dem Vorplatz, an der Wand über der Bar zeigt eine Weltkarte, woher der servierte Kaffee stammt. Nuno wirkt müde, als er mir erzählt, dass es sein letzter Winter als Gastgeber sein wird. Ende 2021 sei Schluss, er habe den Pachtvertrag mit der Madison International Realty – eine in New York ansässige Immobilieninvestorin, die 2019 fast die gesamte Gewerbefläche in ganz Bjørvika übernommen hat – gekündigt und werde dann erst mal Ferien machen. Dazu habe er seit vier Jahren kaum Gelegenheit gehabt, Angestellte hatte er nur zu Hochbetriebszeiten im Sommer, dennoch öffnet er auch im Winter täglich. «Es ist schwierig, hier rentabel ein Café zu betreiben» meint Nuno etwas ernüchtert. Dies liege einerseits an der Miete – die Nuno nicht beziffern darf –, andererseits an der Saisonabhängigkeit der Lokalität. Im Sommer sei das Gebiet zwar sehr belebt, von September bis April aber gebe es kaum Kundschaft. Während das Café im Sommer aufgrund von Lärmemissionen jeweils um elf Uhr abends schliessen muss, macht Nuno im Winter freiwillig um fünf Uhr zu. Die Konflikte, die sich im touristisch zwar beliebten, jedoch mehrheitlich als Wohngebiet genutzten Quartier ergeben, überraschen nicht: «Die Nachbarn reklamierten oft wegen des Lärms, deshalb gibt es hier auch nur Restaurants, keine Bars oder Nachtclubs», erzählt Nuno. Auch im Sørenga Social Club, einem Lokal nur wenige Schritte von Nunos Café entfernt, ist der Name nur ein Überbleibsel des gescheiterten Versuchs, hier einen Nachtclub zu betreiben. «Bünzlig» seien sie eben, die Norwegerinnen und Norweger.

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Innenhof einer Wohnsiedlung in Bjørvika

Samstag, 20. November 2021, später Nachmittag.

PRIVAT OMRÅDE – Privatareal. Das Schild neben der breiten, eigentlich einladenden Treppe macht deutlich: hier endet die Flanierzone. An die der Öffentlichkeit zugestandene Promenade und die Badestege grenzen unmittelbar die Innenhöfe und Eingänge der privilegiert gelegenen Wohnbauten. Der Blicke neugieriger Touristen und Touristinnen wollen sich die Bewohnenden hier nicht aussetzen. Dabei gibt es gar nicht viel zu sehen: Die Spielplätze und Sandkästen sind allesamt verlassen, die Weber-Grills auf den Terrassen zugedeckt im Winterschlaf. Man ist sich nicht sicher, ob hier tatsächlich jemand wohnt, oder ob es noch immer bloss die Musterwohnungen für Kaufinteressierte sind.

Nuno gehört selbst zu den Anwohnern hier, er hat sich vor einigen Jahren eine Wohnung in Bjørvika gekauft. Dazu gilt es zu wissen, dass Norwegen im Vergleich mit anderen skandinavischen oder westeuropäischen Ländern einer der tiefsten Mieteranteilen hat: Nur rund ein Fünftel der Bevölkerung Norwegens mietet ein Haus oder eine Wohnung, wobei Immigrierte einen gewichtigen Teil der Mietenden ausmachen. Immobilien sind also nicht nur für Firmen und Investorengruppen eine rentable Wertanlage, sondern auch für das Gros der Norwegerinnen und Norweger. Auch Nunos Wohnung dürfte, wie er selbst sagt, bereits jetzt rund 30 Prozent mehr Wert haben, als er damals selbst dafür bezahlte.

Ein Ort der baren Vernunft

Noch ist Oslos Vision nicht vollendet: Die Arbeiten an der Fjord City dürften sich gemäss aktuellen Schätzungen noch bis ins Jahr 2045 hinziehen. Das neue Bjørvika ist zu rund zwei Dritteln gebaut, hat sich aber bereits jetzt als das neue Trend- und Kulturquartier Oslos etabliert. Die Tuchfühlung mit dem neuen Stadtteil lässt mich mit ambivalenten Gefühlen zurück. Die Bewunderung mischt sich mit Skepsis, die lebhaften Bilder vom Sommer verlieren im Winter an Glanz. Was ist es, das die scheinbar grenzenlose Faszination dieses Ortes trübt?

Vielleicht offenbart sich die Logik Bjørvikas beispielhaft an der Person von Nuno: Als Gastronom die Leute bewirten, tagtäglich das Café in Schwung halten, auf Ferien verzichten – damit lässt es sich gerade so leben. Üppige Gewinne indessen winken nur den Immobilienbesitzenden. Gut angelegtes Kapital ist offenbar lukrativer als gut gemeinte Arbeit. Damit stellt das neue Oslo kaum eine Ausnahme dar. Bemerkenswert aber ist das Kleid, in dem sich die Zukunftsstadt präsentiert: Mithilfe renommierter Architekturstudios, zahlreicher öffentlicher Plätze, einladenden Badeanlagen und ganz viel Kultur hat es Oslo geschafft, die finanziellen Mechanismen hinter der globalen Immobilienwirtschaft in einen Deckmantel des sozialen, inklusiven Wohlfahrtstaates zu hüllen. Die schmucke und moderne Architektur direkt an der Meeresbucht verleiht der norwegischen Hauptstadt neu den Charakter einer global bedeutsamen Hafencity. Die Oper, die Bibliothek und das Munch-Museum stehen symbolisch für das, was Oslo sein will: eine aufgeklärte Kulturstadt. Mit beeindruckendem Tempo ist es der Stadt gelungen, diese Vision in Bjørvika zu realisieren. Damit lockt Oslo tagtäglich tausende Besucherinnen und Besucher in die Fjord City und bietet Bleibenden attraktiven Lebensraum. Damit fehlt es Bjørvika aber auch an jeglicher Mystik; diesem Ort, der einst als Kulisse für Munchs berühmtestes Gemälde diente. Wenn Munchs Der Schrei Schrecken, Verzweiflung und Ungewissheit verkörpert, steht das neue Bjørvika für Sicherheit, die Vernunft und das Erwartbare. «Nichts», so der norwegische Künstler und Schriftsteller Matias Faldbakken, «wächst organisch in Bjørvika, man findet keinen Zufall, hier gibt es keinen religiösen Raum, keine Lücken, keinen Ort für metaphysischen Überschuss. Der Kulturalismus liegt wie ein Lack über der Immobilienspekulation.» Die sterilen Visualisierungen scheinen wahrgeworden. Es ist dies wohl der Preis, der Oslo für sein neues Image bezahlen muss.