«Hack the rules!»

«Leider sind die sechs jungen Katzen und ihre Mutter noch in unserer Wohnung in Amsterdam», die Textnachricht erreicht mich noch kurzfristig vor dem Treffen, auf dem Fahrrad. Der Absender hätte uns gerne seine niedlichen Bengalkatzen gezeigt. Bei der Ankunft am David Humeweg 41 begrüsst uns stattdessen die rot-weisse Europäisch Kurzhaar der Nachbarn. Wir besuchen Daan Uttien, 49, Berufsbezeichnung: «Hacker/Maker». Bevor mich sogleich das Etikett vom Bitcoin-Millionär erwischt, der nachts einen schwarzen Hoodie und tagsüber ein Dr Seuss Shirt trägt, bringen ein paar Gesprächsminuten und ein Espresso noch Klarheit: Daan Uttien hat Goldschmied gelernt, war als Risiko- und Kreditmanager für Geldinstitute tätig, er stieg dann «aus dieser Welt», wie er sie nennt, wieder aus, um in seinen Erstberuf zurückkehren, nun «an die Schnittstelle zwischen dem analogen Handwerk und der digitalen 3-D-Produktion». Aktuell ist seine Haupttätigkeit eine andere: Er ist Bauherr und Stadtbauer in Oosterwold. Und ich begreife: Mitglied der niederländischen Hacker- und Makergemeinschaft zu sein, ist weniger ein Beruf, eher die Berufung zu einer Lebensweise: Daan ist kreativ, anpassungsfähig, experimentierfreudig, eher grün, verspielt, mit einer Hingabe im Umgang mit Technik ausgerüstet und «politisch sozial-libertarisch» d.h. freiheitsliebend, wie er von sich selbst sagt. In der Kombination wirkt sein Profil leicht verrückt.

Wir sitzen auf der Terrasse seines künftigen Wohnhauses. Daan baut es für sich und seine Partnerin, zweieinhalb Zimmer und eine grosse Terrasse, «wir wollen ja vor allem draussen leben», so Daan. Dazu passt, dass vom künftigen Haus bisher nur eine Betonbodenplatte zu sehen ist. Bis wann wird das Gebäude denn fertiggebaut? «Bis Weihnachten», in welchem Jahr? «Bis Weihnachten», der Bauherr meint damit: Er weiss es nicht. Daan baut sein Haus komplett selbst, als einer von wenigen in Oosterwold, wie er anfügt. «Es sind wohl weniger als zehn Prozent, die tatsächlich selbst Hand anlegen.» So wie er: Der Schopf mit Arbeitsplatz und Nebenraum steht im Rohbau, das Haus ist aus Holz und Stroh. Die Einblasmaschine für das Stroh musste er kurzerhand «hacken», d.h. für seinen Zweck umbauen. Zwischen Schopf und Wohnhaus plant Daan ein richtiges Gewächshaus. Was jetzt schon im Garten steht, ist aus Plastik und kommt gegen den Wind auf Flevoland nicht an. Schliesslich hat er vor, einen Erdkeller für seine landwirtschaftlichen Produkte zu bauen. Im Winter liegt das Grundwasser bei einem Meter, im Sommer bei rund eineinhalb, das Brackwasser liegt in Oosterwold fünf bis zehn Meter tief, weiss er. Und wie erlebt er als Bauherr den Umgang mit den Regeln in Oosterwold? «Ich betrachte das Ganze als ein Experiment und wende die Regeln möglichst dehnbar an. Ich will zu Lösungen kommen, die funktionieren aber ungeschliffen sein dürfen», mit anderen Worten gelte auch hier: «Hack the rules». Über die Baubewilligung und seine Schildkröten im Garten reden wir nicht weiter. Dafür hat Daan zur Rolle der Behörden eine klare Meinung: Den Staat und seine Regeln brauche es nur, wenn es notwendig sei, z.B. bei nachbarschaftlichen Konflikten, die er in Oosterwold selbst schon hautnah miterlebte: «Dann muss auf den Staat unbedingt Verlass sein», betont er.

Bevor er und seine Partnerin dereinst vor Weihnachten in Oosterwold in ihr neues Wohnhaus aus Holz und Stroh einziehen, wohnt und arbeitet Daan Uttien in dieser Behausung aus den 1980er Jahren. Sie steht auf seinem Grundstück im grossen Garten. Zudem haben die beiden noch eine Wohnung in Amsterdam.

Was macht Oosterwold für dich besonders? «Das soziale Gefüge funktioniert sehr gut, obwohl die Nachbarschaften – nett ausgedrückt – ziemlich funky sind». Für den ehemaligen Bankangestellten sind zudem die in Oosterwold geschaffenen «Mehrwerte», wie er sie nennt, ebenfalls eine Erfolgsgeschichte. Zum Beispiel, dass die steigenden Landpreise die Grund- und Hauseigentümer in wenigen Jahren reihenweise zu Immobilienmillionären machen? «Yes, people made the value!», es seien schliesslich die Menschen, die durch ihre Investitionen und ihren Einsatz diesen Profit ermöglichten, ist Daan der Ansicht. Ebenfalls einen grossen Einsatz leistet er selbst als Stadtbauer in seinem grossen Garten, wo er jeden Zentimeter kennt. Für ihn gilt die Regel ebenfalls, 50% der Fläche landwirtschaftlich zu nutzen: «Kein Problem, im Gegenteil: In tausenden von privaten Gärten gleichzeitig urbane Landwirtschaft für die Selbstversorgung und den lokalen Markt zu betreiben, das finde ich eine grossartige Kernidee des Experiments Oosterwold».Aus diesem Grund ist er Mitglied der Genossenschaft für städtische Landwirtschaft, die seit 2020 besteht. Und seine Erdbeeren teilt er sehr gerne mit der Nachbarschaft.

Die Geschichte von Daan ist so funky wie seine Nachbarschaft: Mit handwerklichen Workshops, als Stadtbauer und Gastgeber im eigenen B&B will er tätig sein, nachdem seine beiden Strohhäuser, das Gewächshaus und der Erdkeller in Oosterwold einmal fertig gebaut sind – wer weiss, vielleicht züchtet er zusätzlich Bengalenkatzen. Und wetten, dass der Bauherr und Stadtbauer einen schwarzen Hoodie im Kleiderschrank hat? Für das Foto sitzt er mit einem verschmitzten Lächeln auf seinen 1980er Columbia 11CV-95CM-Mini-Traktor, der mitten auf der Baustelle steht: Was er damit wohl vorhat?

Die Studienreise wird durch die Stiftung Otto Pfeifer unterstützt.