Sébastien Marot diskutiert das Verhältnis zwischen Stadt und Land.
NZZ, 18.03.2020 / Mit seiner Diagnose zur gegenwärtigen Verstädterung spaltet Sébastien Marot die Gemüter: Die fortschreitende Urbanisierung unseres Planeten ist zwar unausweichlich, doch gleichzeitig ist sie unmöglich – weil die Ressourcen gar nicht vorhanden sind. Dieser Schizophrenie begegnet der Philosoph, Kritiker und Professor aus Paris mit der These, dass im Zeitalter des Klimawandels die Umwelt- und Architekturdisziplinen unbedingt wieder Hand in Hand gehen müssten. Schliesslich, so Marot, seien der Land- und der Hausbau bereits in der Jungsteinzeit vom Homo domesticus als Zwillinge geboren worden.
Auf die vielen Fragen um einen nachhaltigen Austausch zwischen Stadt und Land gibt Marot keine gültigen Antworten, sondern stellt seine These unter Beweis: Zusammenarbeit ist nun dringend notwendig, und sie muss kreativ sein. Mit Bezug auf die Geschichte verschiedenster Disziplinen eröffnete er mit der Ausstellung «Agriculture and Architecture: Taking the Courty’s Side» in Lausanne eine wahre Fundgrube. Sie inspiriert zur Kehrtwende, macht Lust auf fachübergreifende Ansätze und die Suche nach neuen Lösungen. Allerdings wirkt seine Beweisführung ideologisch verklärt. Eine comicartige Timeline endet mit einer vermeintlichen Lösung: Dank der dezentralisierten «low-impact human ecology» aus kleinmassstäblichen Gemeinschaften, geschlossenen Kreisläufen und starkem Kulturwesen entwickelt sich die Menschheit genügend Widerstände, um auch in einer schwierigen Zukunft zu überleben.
Geschichtslektion zur Stadtentwicklung
Bemerkenswert ist, dass Marots (vorläufig geschlossene) Ausstellung im Februar fast gleichzeitig mit der weitaus prominenter wahrgenommenen Riesenschau «Countryside, The Future» im Guggenheim-Museum in New York eröffnet wurde. Dort lassen Rem Koolhaas und sein Think-Tank AMO neben den vielen Exponaten im Innern am Strassenrand in einer kleinen Indoor-Plantage während der Dauer der Ausstellung 50 000 Cherrytomaten produzieren. Der Zukunftsoptimismus der New Yorker Schau ist ein anderer, doch die Ursprünge liegen nahe beieinander. Sébastien Marot hat nämlich mit Seminaren an der Harvard School of Design zur New Yorker Ausstellung beigetragen, wie es im Report zur Guggenheim-Ausstellung vermerkt ist. Anderweitig aber kommt Marots historische Perspektive auf die Industrialisierung, die nicht nur die Städte, sondern auch die anderen 98 Prozent der Erdoberfläche geprägt hat, in der New Yorker Schau nicht vor.
Das Komma im Ausstellungstitel von «Countryside, The Future» ist haargenau gesetzt: Mit dem Rücken zur Stadt führen der Zauberer Koolhaas und sein Think-Tank AMO ohne Mahnfinger, aber mit viel Aufmerksamkeit und Mut zum Risiko durch ihre Feldforschungen. Das Resultat ist eine Ansammlung von spannend erzählten Episoden. Die Tomaten sind nur eine davon. Auf der Museumsbühne bleibt sich Koolhaas, der Visionär, treu: «Es gibt keinen Kontext. Es gibt keine Erwartung.»
Zeitmaschine der Industrialisierung
Marot dagegen sieht die Gegenwart immer im Kontext der Geschichte. Er spekuliert nicht, ganz im Gegenteil: Er präsentiert die Geschichte der Industrialisierung und Urbanisierung aus einer teleologischen Perspektive. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Lausanner Ausstellung ihre Sicht auf die Dinge mit einem Doppelpunkt im Titel präsentiert: «Agriculture and Architecture: Taking the Country’s Side». Aus den Vorbereitungen von Koolhaas’ Riesenschau ist so am Rand auch ein kleines Kontrastprogramm entstanden: eine Lektion zum Ergebnis von 10 000 Jahren Umwelt- und Architekturgeschichte. Marot setzt dazu eine 30 Meter lange Timeline, 42 Tafeln (das Buch zur Ausstellung), Szenarien für künftige Planungen und Filme ein.
Die Ausstellung wurde bereits an der Architektur-Triennale in Lissabon 2019 unter dem Titel «The Poetics of Reason» gezeigt. Anders als der Zauberer Koolhaas setzt der Prophet Marot auf das kritische Argument der begrenzten Ressourcen und Möglichkeiten. Indirekt stärkt er somit auch die Stellung der Landschaft gegenüber der Stadt. Hätte er eine eigene Zeitmaschine, er würde sie gerne auf ein Datum zu Beginn des industriellen Zeitalters einstellen. Die neue Marktökonomie und technische Erfindungen schufen damals die wichtige Voraussetzung dafür, dass sich die Umwelt- und Architekturdisziplinen weiter bzw. auseinander entwickelt haben.
Agrikulturelle Brüche
Der Detektivarbeit von Sébastien Marot ist es zu verdanken, dass die theoretische und praktische Überschreibung der Beziehung zwischen der Agrikultur und der Architektur so präsentiert wird, dass auch bisher unbekannte Schichten, Positionen, Ideen und Bilder zum Vorschein kommen. Wer sind Colin Moorcraft (Designing for Survival, 1972), Bill Mollison (Permaculture, A Designer’s Manual, 1988), David Holmgren (Future Scenarios, 2009) oder Wendell Berry (Think Little, 1970)? Und wie stehen sie im Verhältnis zu Françoise Choay (L’Urbanisme, 1965), Colin Rowe (The Chicago Frame, 1956) oder zur Künstlergruppe Superstudio? Sébastien Marot geht es mit seiner Show nicht um eine gültige Antwort, sondern darum, seine These zur Notwendigkeit und Kreativität der Kooperation zwischen den Disziplinen zu beweisen.
Gar brüchig wird das Eis aber für den Philosophen und Kritiker Marot, wenn er zum Entwerfer und Zukunftsforscher wird. So lädt er die Besuchenden vor grossformatig aufgezeichneten Szenarien für künftige Planungen dazu ein, selbst Position zu beziehen. Wie und wo immer dieses Spiel endet: Marot prophezeit, dass die Verstädterung im Zeitalter des Klimawandels weiter anhalten wird. Für eine nachhaltige Zukunft von Stadt und Land werden sich Zauberer genauso wie Propheten, und auch viele andere, in die Diskussion einmischen müssen.
Die internationale Aufmerksamkeit richtet sich, nachdem die Städte lange im Fokus gestanden haben, derzeit vermehrt auf die Landschaft. In der Schweiz trifft dies auf die brisante Aufgabe, ausserhalb der Bauzonen zu planen, zu bauen und zu gestalten. Das Nebeneinander von Häusern, Fabriken, Wiesen, Tomaten, Schweinen und Kühen muss auf seine Nachhaltigkeit überdacht werden. So wird es Zeit, den unsichtbaren Elefanten im städtischen und ländlichen Raum auch ins Licht zu rücken: die angesichts der schrumpfenden Ressourcen unmöglich gewordene Urbanisierung. Für solche Fragen braucht es alle Disziplinen.
«Agriculture and Architecture: Taking the Country’s Side», EPF Lausanne, Archizoom, bis auf weiteres geschlossen. Der Artikel ist am 18.03.2020 in der NZZ, Printausgabe erschienen.