NYC. Rem Koolhaas und AMO produzieren vor dem Solomon R. Guggenheim Museum 50’000 Tomaten.
An der 5th Avenue in New York steht ein 93340 Warrior von Deutz-Fahr, und neben dem kolossalen Traktor ist ein pinkfarbig leuchtendes Gewächshaus geparkt. Rem Koolhaas und sein Think Tank AMO haben sich als Bühne für die Ausstellung Countryside, The Future das Guggenheim-Museum in New York ausgesucht. Das Schlussbild an der Eröffnung glich einer Opernpremiere: Komponist und Dirigent Rem Koolhaas stand – 40 Jahre nach seinem Buch Delirious New York – als Rückkehrer zusammen mit seinem Ensemble auf der Bühne, darunter Samir Bantal von AMO, Co-Autor Niklas Maak sowie Forschenden der Harvard School of Design, der Academy of Fine Arts in Peking, der Universitäten von Nairobi und Wageningen sowie der Design Academy in Eindhoven.
In Sorge um die Schweiz
Ausgehend von globalen Themen stellt Koolhaas einmal mehr die fordernde Frage nach unerforschten Potenzialen für die Urbanistik. Auf seiner Suche nach Extremen ist die Perspektive immer neu: Ausstellung und das Textbuch Countryside, A Report blicken dorthin, wo wir das Urbane hinter uns gelassen haben, so Koolhaas (vgl. Titelbild). Ausserhalb der Städte leben ein Fünftel der Menschen auf 98% der Erdoberfläche, zum Beispiel im Dorf Andermatt oder in den Weiten Chinas und Afrikas oder in der Wüste. Countryside umfasst als Überbegriff sowohl den ländlichen Raum, Vorstellungen von der Natur und die kulturellen Formen von Landschaft. Die Sorge darum entwickelte Koolhaas vor zehn Jahren als Tourist in den Schweizer Alpen. Die Erfahrung, dass sich die Landschaft sogar in der Schweiz schnell verändert, habe ihn dazu bewegt, genauer hinzuschauen. Auch, weil die Prognose, dass im Jahr 2050 rund 70% der Weltbevölkerung in urbanen Gebieten leben werden, zu einer massiven Vernachlässigung des übrigen Gebiets führen wird.
Ausuferndes Storytelling im Guggenheim
Die Ausstellung versammelt die Ergebnisse aus fünf Jahren Feld- und Forschungsarbeit. Sie beginnt mit Koolhaas in den Schweizer Alpen und einer Weltkarte. Es folgen zwei historische Wendepunkte: erstens, die Ablösung der Landschaft als Kontemplationsort für Städter durch Wellnesswelten. Zweitens, die territoriale Transformation des Umlands durch politisches Redesign. Die Beispiele führen unter anderem vorbei am frühsozialistischen Denker Charles Fourier (Phalanstère) und an Hermann Sörgel (Atlantropa). Zudem sind Planungen von Diktatoren wie Hitler, Stalin und Mao dokumentiert: «Politics was about countryside», so Koolhaas, sie diente meistens, um Mobilität und Nahrungsmittelproduktion zu sichern.
Auf den inhaltlichen Höhepunkt trifft man bei Halbzeit der Ausstellung. Dabei nähern sich innovative Experimente aktuellen Themen: Wie etwa sollen 700 Millionen Chinesen künftig auf dem Land zusammenleben? Wie schafft es die überalterte Landbevölkerung in Japan, ihre Felder selbst zu bestellen? Hoffnung machen Einzelinitiativen, neue Technologien, welche z.B. die Feldarbeit der Menschen mechanisch unterstützen, staatliche Programme wie die so genannten Taobao Dörfer in China, die sich lokal auf E-Commerce abstützen. Weitere Episoden erzählen von Flüchtlingen, die verlassene Dörfer in Deutschland (Manheim) und Italien (Riace und Camini) wieder bevölkern; von chinesisch finanzierten Eisenbahnlinien in Nigeria, die Dörfern auf dem Land eine ungeahnte Entwicklung bringen; von Pufferzonen zwischen Berggorilla-Populationen und Touristensiedlungen. Zu denken geben die Folgen des abschmelzenden Permafrosts. Geht es um Natur und Tierwelt, stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wieviel davon wollen wir überhaupt erhalten: 50 oder 70 Prozent?
Zuletzt beschwört die Ausstellung im Guggenheim einen weiteren Wendepunkt: Mit der robotergesteuerten Gewächshaus-Landwirtschaft, mit Chemiefabriken zur Lebensmittelproduktion und Serverfarmen in der Wüste hat der kartesianische Rationalismus des Rasters längst auch ausserhalb der Stadt Einzug gehalten. Dies zur Kenntnis zu nehmen, ist das Eine. In den fensterlosen, von Robotern betriebenen Forschungs-, Produktions- und Logistikgebäuden eine neue Architektur ohne Architekten zu erkennen ist das Andere. Koolhaas und AMO sehen darin keine Kritik. Ihre grossformatigen Bilder von den Serverfarmen in der Wüste von Reno sollen die Chancen für jene Berufsvertreter aufzeigen, die es sich zur Daueraufgabe gemacht haben, die Konfrontation mit neuen Aufgaben zu suchen.
Leidenschaftliches Plädoyer für Kooperation
Wissenschaft, Feldforschung und Erzählkunst; Pläne, Images, Filme, bedruckte Vorhänge, (zu viele) Texte und fahrende Roboter, alles hat in der Ausstellung Platz. Sogar die Pop-Kultur der Countryside ist mit Bildern von Zeitschriften, Autos und Spielzeugen plakatiert. Die Schau ist insgesamt ein leicht vermessener Anlass – typisch für Koolhaas –, und dies obwohl die Inhalte, durchaus provozieren und nicht immer allzu ernst genommen werden wollen. Immerhin: Die Show, die partout keine Kunstausstellung sein will, endet mit Möglichkeiten und ohne Mahnfinger. Das Wesentliche daran ist, dass gesucht und vielleicht auch gefunden wurde. Die rätselhafte Seite, die der Warrior vor Frank Lloyd Wright’s ikonischem Guggenheim-Museum und die gesamte Show hinterlassen, wiederspiegelt vielleicht gerade die radikale.
Zumindest der nicht ausgesprochene Subtext der Ausstellung liegt auf der Hand: Damit wir am Leben in den Städten auch künftig unsere Freude haben, werden das Umland und der Rest Natur in naher Zukunft hochgradig strukturiert, organisiert und mechanisiert. Auf dem Weg in diese Zukunft passieren Veränderungen sprunghaft.
Ebenso wie diese Zuspitzung ist auch das Komma im Titel der Ausstellung nie und nimmer zufällig gesetzt: Zwischen «Countryside» und «The Future» spannt sich für Architekturschaffende ein offenes Feld für zusätzliche unternehmerische Tätigkeiten auf. Sie begegnen hier nicht nur einer schwindenden Bevölkerung und immer mehr Robotern, sondern auch Drohnenpilotinnen, Anthropologen, Soziologinnen, Pixelfarmern und Chemikerinnen: Country-Rem und sein Gefolge ziehen nicht einsam und hoch zu Ross los, wie einst der Marlboro-Mann, sondern immer in einem gut organisierten Netzwerk.
Das kleinformatige Textbuch «Countryside, A Report» (Taschen 2020) mit Textbeiträgen von rund 20 beteiligten Autoren u.a. von Niklas Maak ist auch ohne Museumsbesuch lesenwert. Rem Koolhaas schliesst die zahlreichen Berichte und Interviews seiner Mitstreiter auf 27 Seiten mit Fragen ab. Ist das etwa Poesie? «Is it me or are sections of switzerland (…) living a new form of afterlife?» Seine Frage an die Schweiz ist fett gedruckt. Rem Koolhaas meint es ernst, wenn er die heutige Landwirtschaft als Auslaufmodell bezeichnet. Er suggeriert auch, dass wir vielleicht einmal mehr die Ausnahme sind und das Leben nach dem Tod bereits neu erfunden haben.
Nachtrag: Als Kontrapunkt und historische Fussnote zur Ausstellung im Guggenheim gastiert an der EPFL in Lausanne bis am 29. April 2020 die Ausstellung Agriculture and Architecture: Taking the Country’s Side. Der Kurator der Schau, der französische Philosoph und Historiker Sébastien Marot, hat ebenfalls zu Koolhaas’ Countryside, The Futurebeigetragen. Er entschied aber, anlässlich der Architektur-Triennale in Lissabon 2019 unter dem Titel The Poetics of Reason eine eigene Ausstellung zu zeigen, die nun, nicht zufällig, auch in Lausanne zu sehen ist. Die Ausstellung ist wegen Ovid-19 geschlossen.