Freitag, 14.45 h: Stazione di Venezia Santa Lucia
sta. Der Moment ist vielleicht sogar so einmalig, wie wenn man beim Besuch im Museo del Prado in Madrid zum ersten Mal vor dem Tryptichon «Der Garten der Lüste» von Hieronymus Bosch steht: Nach wenigen Schritten in der asketischen Bahnhofshalle aus der faschistischen Periode Italiens, ausgeführt von 1936 bis 1943 durch die beiden Architekten Angiolo Mazzoni und Virgilio Vallot, öffnen einem die Glastüren der Stazione di Venezia Santa Lucia den Panoramablick auf die Stadt mit den Kanälen und Palazzi. Wie einer von 80’000 anderen Menschen, die täglich im Hauptbahnhof in Venedig verkehren, möchte ich diesen Moment immer wieder erleben: Den leicht erhöhten Blick auf das bewegte Bild einer längst tot geglaubten Stadt mit dem Canale Grande im Vordergrund; die ersten Atemzüge, die mit dem Duft von Meeresluft angereichert sind; das Hinabsteigen der zwölf Treppenstufen hinunter auf den Bahnhofplatz. Ich frage mich: Wie war wohl damals die Ankunft für den Hauptdarsteller in Thomas Mann’s Tod in Venedig?
In der Lagunenstadt sind nicht nur die Orte von so manchen Erzählungen und Filmen anzuschauen. Nicht nur viel Kunst, Baukunst und die Geschichte eines für lange Zeit kulturell, sozial, politisch und wirtschaftlich einzigartigen Standorts machen Venedig so besonders: Auch die Zukunft des Tourismus zeigt die Lagunenstadt seit jeher früh an. Schon im 17. Jhd. reiste der Adel dorthin zum Karneval, danach im 19. Jhd. das Bürgertum. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Lagunenstadt zum Sehn-suchtsort des Massentourismus. Heute sind es jährlich 30 Millionen Besuchende. 1950 waren es noch deren zwei. 150’000 Venezianer/innen erlebten diese Zeit damals noch als einheimische Bewohner/innen. Heute lebt noch ein Drittel davon auf der Hauptinsel: «Overtourism» nennen Forscher das Phänomen, das Venedig wohl oder übel und wohl bald auch anderen beliebte Reisedestination den Weg in die Zukunft weisen wird. Die Symptome eines an überschaubar wenigen Orten anzutreffenden, mit einer massenhaften Menge an Menschen überbordendenden Tourismus sind bekannt: Verkehrswege sind verstopft; Tempo und Hektik permanent hoch; das Kaufangebot langweilig global; die Aussenwerbung protzig; die Abnützungserscheinungen an der Infrastruktur und bei den mürrischen Einheimischen ablesbar; der Wechsel von Tages- und Nachtbetrieb meistens abrupt; Orte, Einrichtungen und Werbebotschaften austauschbar: Generic City.
15.45 h: Giardini, La Biennale
Trotz Massenandrang: Wer seine Unterkunft geschickt wählt und den Sightseeing-Vaporetti der Linien 1 und 2 ausweicht, schaffte es, in weniger als einer Stunde nach der Ankunft ohne Gepäck am Eingang zu den Giardini der Biennale di Venezia zu stehen. Alle zwei Jahre versuchen die globalen Anführer der Disziplin hier einen Sehnsuchtsort für den Architekturdialog zu führen, bzw. «aufzuführen» müsst man schon eher sagen, denn: Der Dialog mit den meisten der zigtausenden von Besuchern aus aller Welt erfolgt an der Biennale über das Display von Smartphones und internetfähigen Kompaktkameras: Nur das, was der Blick durch die eigene mobile Hardware als spannend erkennt, wird festgehalten und möglichst umgehend mit der eigenen kleinen Welt geteilt. Effekte, Überraschendes, Spektakuläres und Instagrammables sind die Objekte der Aufmerksamkeit: Erklärung, Reflexion und Austausch werden vom hastigen Blick der bunten Smartphones übergangen. Mein Glück: Das Video, das den Tessiner Altmeister Aurelio Galfetti bei seiner Arbeit im Büro zeigt, habe ich für mich alleine auf Grossleinwand, das bequeme Sofa inklusive. Der grosse Andrang von Besuchenden beweist hingegen, dass der Inhalt und die Formen der Vermittlung und des Konsums an der Biennale stimmig zueinander stehen: Hier der umfangreiche, jedoch flache Katalog der Gestaltungstechniken (Kritik in dérive Nr. 73, 2018), bei der die Darstellungen über Architektur auf infografische Methoden und multimediale Inszenierungen reduziert werden, dort die synchrone Verwertung des Präsentierten durch das technische Auge der privaten Devices.
Die Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelly McNamara haben für die Ausgabe 2018 den thematischen Rahmen «Freespace» gesetzt. Ihre Botschaft will zurück zum Kern der Architektur führen, dorthin also, wo die Disziplin frei ist von Einflüssen aller Art, die sie sich notabene in den letzten Jahren zu einem Grossteil auch selbst zugeschrieben hat. Jedoch: Weshalb sollen ausgerechnet Peter Zumthors Architekturmodelle explizit diese Thematik beschreiben? Oder ist die Botschaft vielleicht so gemeint: Wirklich frei ist der Architekt, die Architektin nur dann, wenn er oder sie als emeritische AutorIn einzigartige Baukunstwerke schafft? Wohl kaum. Über alles gesehen, bieten die Länderpavillons in der Ausgabe 2018 das von früheren Ausgaben bekannte Menü aus programmatischen und szenografischen Spezialitäten, Köstlichkeiten und Belanglosigkeiten. Wer regelmässig zur Architekturbiennale reist, nimmt sich deshalb aus Schutz vor der Überflutung durch Modelle, Pläne, Installationen, Infografiken und Videos sowie ungeachtet vom Rahmenthema am besten schon beim Eingang zu den Giardini die Freiheit heraus, den eingeübten Gewohnheiten sprich seinen Lieblingspavillons nachzugehen: Japan, England, Frankreich, Holland, die nordischen Länder, die USA und Venezuela vielleicht noch – und natürlich die beiden Schweizer Pavillons. Ja, es sind tatsächlich zwei: Bruno Giacomettis Bauwerk von 1952 und der Pavillon der schweizerischen Uhrenmarke Rolex. Was dieser jedoch genau sein soll, bleibt unklar: Showroom, ETH-Flagship, Co-Branding Architektur?
Als Belohnung wartet am Ende des Tages der Buchladen: Wie steht es hier um den Freespace? Triste. Obwohl smarte Themen, smarte Macherinnen und Macher, smarte Besuchende mit smarten Gerätschaften und nicht zuletzt lukrative Sponsoren für die Biennale in Venedig stehen: Es dauert noch, bis man seine Bücher ohne über 20 Euro Aufpreis direkt nach Hause schicken lassen kann. Jedoch: Wer bitte schleppt seine Bücher noch immer selbst durch die Gassen von Venedig und danach durch halb Europa? Ein Amazon-Pavillon müsste schon längst auf der Agenda der Biennale-Macher stehen.
18.30 h: Osteria al Ponte
Wenn die Pavillons in den Giardini um 18.00 h ihre Tore schliessen, empfiehlt sich, trotz der müden Füsse, einen Spaziergang in Richtung Markusplatz zu machen. Zum Beispiel bis zur Calla Larga Giacinto Gallina. Direkt am Campo S.S Giovanni e Paolo, am östlichen Ende des Quartiers Cannaregio, wartet hier die Osteria al Ponte auf Gäste. Und die kommen jeden Tag gerne vorbei. Wer nach den Giardini und noch vor dem ersten Glas in der Osteria richtig auslüften muss, nimmt direkt ab den Giardini den Vaporetto 4.1 bis zur Station Ospedale. Von dort sind es zehn Minuten bis zum Campo. Selbstredend bildet das Gasthaus einen charmanten Brückenkopf aus. Das Innere besteht aus einer Bar, einem eindrücklichen Gestell für Weine und nur sechs Sitzplätzen. Die Gasse und die Treppen der Brücke gehören deshalb zum Inventar der Beiz dazu.
Samstag, 10.00 h, Arsenale
La Biennale findet jeweils in den Giardini und im Arsenale statt. Losgelöst vom Korsett der historischen Länderpavillons findet hier Architektur in einer ehemaligen Armeeeinrichtung statt. Die langgezogenen Hallen aus Stein und Holz sind alleine für sich ein architektonisches Spektakel. Und sie werden gerne unterschätzt. Wer zu Beginn allzu konzentriert in die Beiträge der Ausstellung eintaucht, wird deshalb nach ein paar hundert Metern müde sein. Das ist dann der richtige Moment, um selektiv wegzuschauen und schlendernd bis an das Ende des Ausstellungsgeländes zu gehen. Auf dem Weg dorthin begegnen einem neben weiteren Ausstellungshallen auch die Überbleibsel der nautischen Einrichtungen und altes Kriegsmaterial. Die Docks stehen scheinbar nutzlos aber umgeben von einem stilvoll aufgeräumten und verlassenen Ambiente da. Ein Freespace avant la lettre? In der Nachbarschaft lassen unzugängliche Gebiete auf die weiterhin militärische Nutzung des Arsenale schliessen. Es wird spannend sein, zu beobachten, ob und in welcher Form La Biennale hier in den kommenden Jahren ihr Territorium erweitern wird.
14.00 h, Riva degli Schiavoni
Die Riva degli Schiavoni kann im Sommer sehr heiss werden. In den Wintermonaten bietet sie den Touristen einen von der Sonne gewärmten Ort. Deshalb ist eine beliebte Flaniermeile in der Stadt. Auch in Sachen Werbeauftritte an den Fassaden ist der prominente Ort, an dem die grossen Kreuzfahrtschiffe im Schneckentempo vorbeiziehen, wenn sie den Hafen der Lagune in Richtung offenes Meer verlassen, immer wieder für eine Überraschung gut. Der aktuelle Coup gleicht dabei einer Werbung von Pepsi Cola auf einer Dose von CocaCola, die CocaCola notabene bewilligt hat. Die Auflösung des kleinen Rätsels: Auf der Höhe der Haltestelle S. Zaccaria Jolanda macht ein einziges Grossplakat entlang der Häuserzeile der Riva unverblümt Werbung für eine Reise nach Dubai: «Dubai macht dich aus jeder Perspektive sprachlos», unterschrieben: Emirates. Zu sehen ist ein (verliebtes?) Paar von hinten, das sich den Sonnenuntergang von Dubai anschaut. Die Message ist klar: Den Sonnenuntergang, für den die Riva in Venezia berühmt ist, hat Dubai auch zu bieten. Nur die Skyline am Horizont, die sich verliebten Paaren bietet, ist in der Ferne noch eindrücklicher.
Dass Emirates ausgerechnet an einem Hotspot in Venedig Ab-Werbung macht, und das auch noch exklusiv, ist kein Zufall. Klein-Venedig gibt es in Dubai schon in Form eines Luxus-Hotels. Den Brand der Lagunenstadt hat zudem schon länger auch die Stadt Las Vegas mit dem Hotel- und Entertainment-Center The Venetian für die eigene Standortpromotion genutzt. Trotzdem ist es erstaunlich, das die Werbung an prominentester Stelle in Venedig möglich ist. Keine Frage: Emirates haben es – quasi in Echtzeit – die Aufmerksamkeit des globalen Touristenstroms abgesehen: «Vergiss die Aussicht in Venedig, die du gerade hast und schau her – oder noch besser: fliege gleich hin!».
Dass Venedig mit der Aussenwerbung an Gerüstbauten den städtischen Raum grosszügig für den Wettbewerb um mediale globaler Aufmerksamkeit freigibt, ist bekannt. Vor zehn Jahren wurde sogar die Seufzerbrücke temporär mit Werbung der Automarke Lancia vollgeklebt. Der Grund für die bisweilen überbordende Aussenwerbung in der Lagunenstadt ist vielleicht einfach der: Wer die Ökonomie der temporären touristischen Stadt versteht, kann damit viel Geld verdienen.
19.00 h, Fondamenta dei Ormesini
In der Dunkelheit hat der niedrige Zugang in den Campo Ghetto Nuovo von der Calesele aus, einer kleinen engen Gasse, eine noch bedrückendere Wirkung als am hellen Tag. Das Ghetto ist eine Insel von der Fläche einer Hektare. Die Erschliessung erfolgt über drei Brücken. Seit dem 16. Jhd. war das Ghetto das abgeschlossene Wohngebiet für die jüdische Bevölkerung in Venedig. Wer das Quartier nachts besucht, interessiert sich wohl hauptsächlich für das gastronomische Angebot in der Umgebung der kleinen Insel. Nur wenige Schritte entfernt vom Fondamenta die Ormesini mit seinen zahlreichen Bars und Trattorias für Trip Advisor und Co kann man zum Beispiel bei den 40 Räubern gut essen (Osteria ai 40 Ladroni).
Sonntag, 14.00 h, Stazione Milano Centrale
Wer Mailand mit dem Zug erreichen will, um dort umzusteigen, hat bei der Reiseplanung zwei Möglichkeiten: Die erste besteht darin, die Hoffnung zu haben, dass der Anschluss mit einem Spurt durch die Halle von Milano Centrale dann irgendwie doch noch gelingt. Als Alternative bietet sich an, in Mailand eine Stunde freiwilligen Aufenthalt einzuplanen. Der Spurt entfällt dann, und es wird einem ganz bestimmt nicht langweilig. Der Bahnhof ist in Europa nämlich führend darin, sich als Werbeplattform zu inszenieren. So lohnt es sich, den starren Blick von den Abfahrtszeiten abzuwenden und sich etwas über der Höhe des Fussgängerblicks umzuschauen. Heute fallen die Engel auf, welche die Reisenden auf dem prominenten Prospektbogen an der Stirnseite der Gleisehalle empfangen: Am dunkelblauen Himmel präsentieren sie dort mit viel Hingabe das neue OPPO RX17. Das ist ein chinesisches Smartphone, das seit November 2018 in Italien, Spanien und den Niederlanden im Handel ist: Benvenuto a Milano!