Im Roman The See-Through House, My Father in Full Colour (e 2021) nimmt die Autorin Shelley Klein Abschied von ihrem Vater, dem Textildesigner Bernat Klein. Das streng modernistisch gebaute und geführte Elternhaus dient der Erzählung als kritischer Handlungsrahmen. Die Autorin nimmt die Leserschaft mit auf ein Sightseeing durch das Haus und ihre eigene persönliche Zeitreise. High Sunderland gilt als architektonische Ikone. Das Gebäude von Peter Womersley wurde 2017 verkauft und umfassend saniert.
sta. Shelley Klein ist eine britische Autorin und Journalistin. Ihr Buch, “The See-Through House: My Father in Full Color,” erschien erstmals 2021. Der Plot beginnt mit einer Autofahrt: Ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter Peggy kehrt Shelley in ihr Elternhaus in Selkirk, South Sunderland, an der schottischen Grenze zurück. Sie will sich um ihren alternden Vater Bernat Klein kümmern, den sie liebevoll “Beri” nennt. Mit 17 Jahren war sie damals ausgezogen. Nun kehrt sie mit 44 Jahren nach Hause zurück, im Gepäck hat sie einen Teil ihrer Möbel: “Your furniture is GHASTLY”, grässlich seien die Möbel, quittiert Beri die Ankunft seiner Tochter. Der Versuch, das Haus zu lesen, wird im Roman zu täglichen Beschäftigung der Erzählerin. Klein spannt dazu gleich zu Beginn des Buches einen mehrdeutigen Faden: Die Moderne als erzieherisches Programm, als persönliche, in Ansätzen traumatische Erinnerung, als Faszination und Tor zu Anerkennung und Ruhm und irgendwie auch als tragisches Familienthema. Beri sagt beim Anblick der Möbel nur: “They spoil the line of the House.”
“Your furniture is ghastly, they spoil the line of the House.” Bernat Klein
Offenheit als Hypothek
In der Erinnerung der Autorin wurde zuhause vieles nicht erzählt, was präsent war. Als Sohn einer Familie Orthodoxer Juden wurde Bernat Klein mit 16 Jahren nach Jerusalem geschickt. Im Roman erinnert sich Shelley Klein an die hellen und dunklen Gefühlslagen in den Erzählungen ihres Vaters. Sie mutmasst, dass gerade die Präsenz des Unsichtbaren und Unausgesprochenen ihren Vater zum Bau eines transparenten Pavillons motiviert hat. Offenheit und Durchblick stehen hingegen auch für die totale Kontrolle. Als junge Frau erlebte Shelly im Roman die Offenheit tatsächlich eher als eine Hypothek denn als Segen für ihre eigene Entwicklung: So schreibt sie aus der Erinnerung von einem Lebensraum, der jegliche Dunkelheit, Rückzugsmöglichkeit und Privatheit verbannte.
Vom Courtyard in den Master Bedroom
Die Beschreibung des eingeschossigen Pavillonbaus trägt wesentlich zum Erzählrhythmus des Romans bei. Mit offenem Blick und akribisch führt Klein durch die einzelnen Räume: von der Eingangshalle über das Studio in das Arbeits- und Wohnzimmer, danach in die Küche, in den Master Bedroom und letztlich in den Garden. Persönliche Episoden aus der Familiengeschichte der Kleins, glückliche und depressive Momente wechseln sich auf ihrem Weg durch das Haus ab. Immer wieder erlebt Shelley Klein ihre persönliche Trauer als ein straffes Bündel aus Emotionen: Schuld, Ärger, Liebe und Bedauern. Die Glasarchitektur, der offene Grundriss und die modernistische farbige Kargheit der Architektur geben ihr in diesen Situationen keinen Halt, im Gegenteil: Sie bilden einen fragilen Untergrund, der eine Mischung aus Bewunderung, Abwehr und Kritik auslöst. In der Erinnerung erkennt sie, dass die Bewohner des Hauses so passioniert sein müssten “von seinen sauberen, ununterbrochenen Linien und aufgeräumten Zimmern wie der Architekt selbst”.
Auftrag an einen ambitionierten Youngster
Mit dem Bau des Eigenheims beauftragte Vater Beri den 1957 noch jungen aber sehr ambitionierten Architekten Peter Womersley. Seine Entwurfsidee gründet im open-plan House, einer zusammenhängenden, offenen und eingeschossigen Raumstruktur. Den Pavillon setzt er auf einen grasbewachsenen Hügel, etwa 35 Meilen südlich von Edinburgh. Vater Bernat Klein baute von hier aus – heute würde man schreiben: im Homeoffice – seine Reputation als Lieferant von Modehäusern wie Christian Dior und Yves Saint Laurent auf. In den 1960er- und 1970er Jahren war Klein als Textildesigner international bekannt, spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung des schottischen Textildesigns und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Kein geringeres Gebäude als das Kaufmannn Haus (Falling Water) von Frank Lloyd Wright motivierte den jungen Peter Womersley zu seinen Bauten. Die Kleins liebten zuerst sein Werk und dann auch ihn: scheu aber doch protzig und selbstsicher; ein Verehrer von Palladio und Kenner der klassischen Architektur; professionell und kompromisslos der Moderne verpflichtet.
Das Ende und die Zukunft mit dem Tod
Zentrales Thema des Buches ist die Familie, nicht die Architektur. Shelley reflektiert mit “See-Through House” ihre Kindheit, ihre Beziehungen zu ihrem Vater und ihrer Mutter, die früher starb. Auch Gäste spielen eine Rolle: Bernat Klein war als ein angesehener Textildesigner auch ein beliebter Gastgeber. Das Buch verknüpft dadurch zwangsläufig die Familiengeschichte mit den Themen Kreativität und Kunst. Und Shelly Klein erzählt beiläufig doch ein Kapitel Architekturgeschichte. Die pure Architektur des Pavillons lässt für die Erzählerin eine Spannung zwischen individueller Kreativität und gestalterischem Programm, zwischen Tyrannei und elterlicher Fürsorge und zwischen dem Zwang nach Klarheit und dem Bedürfnis nach Rückzug entstehen. Ihre frühe Erziehung bewegte sich zwischen “old-fashioned hellfire and modernist militant”, schreibt sie. Die Geschichte endet mit dem Tod und damit mit dem Abschied von Haus und Vater, sie schreibt: “If High Sunderland was the lens through with Beri saw the world, it is now the Lens through with I am catching sight of my future. I am finally ready to leave.”
Ein Haus mit eigenem Charakter
Shelley Klein entwickelt sich im Buch als Erzählerin von einer Tochter zu einer Frau, die mit dem Vermächtnis ihrer Heimat und der Beziehung zu ihrem Vater Frieden schließen will. Diese Entwicklung ist geprägt von einer Mischung aus Bewunderung und leiser Kritik. Die Entwicklung der strengen Vaterfigur ist eine Enthüllung seiner Persönlichkeit und seiner Architekturphilosophie. Er wird als kompromisslos, visionär, aber auch distanziert und emotional unzugänglich beschrieben. Im Laufe des Buches wird deutlich, wie seine Persönlichkeit das Leben seiner Familie geformt hat. Das Haus selbst spielt eine zentrale Rolle und entwickelt sich in der Phantasie beinahe zu einem lebendigen Charakter. Das Gebäude verkörpert die Philosophie und Eigenheiten des Vaters und beeinflusst dadurch auch die Emotionen und Beziehungen der Bewohnenden oder der Gäste. Die Architektur ist gleichzeitig Symbol für Transparenz und Offenheit, aber auch für emotionale Kälte und die Unmöglichkeit der kleinen Shelley, sich darin irgendwo zu verstecken. Man könnte die Atmosphäre modernistische Tyrannei nennen. Trotzdem findet die Autorin immer wieder witzige Ablenkung: “Wo sonst, als in einem modernen Haus, findet man genügend kahle Wandflächen, um Kinofilme zu sehen.”
Im Stil von Memoiren
Der intime Erzählstil ist stark persönlich und reflektierend, da Shelley Klein die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt. Es handelt sich um eine Memoiren-Erzählung, in der sie über ihre Kindheit und das Aufwachsen im außergewöhnlichen Haus ihres Vaters berichtet. Die Sprache ist zugänglich, aber gleichzeitig poetisch und durchdrungen von emotionaler Tiefe, atmosphärisch und bildreich: Klein schafft es, mit detaillierten Beschreibungen sowohl das Haus selbst als auch die Stimmungen und Gefühle der Bewohner lebendig darzustellen. Nachdenklich und melancholisch: Der Stil ist geprägt von einer ruhigen, nachdenklichen Melancholie. Klein reflektiert über Verlust, Familie und das schwierige Erbe ihres Vaters. Es gibt eine klare emotionale Tiefe, aber ohne übermäßige Sentimentalität. Stattdessen arbeitet Klein mit sanfter Ironie und einer Balance zwischen Liebe und Kritik. Langsam und reflektiv: Die Erzählung hat ein eher langsames Tempo, da sie sich auf Reflexionen über die Vergangenheit konzentriert und die emotionalen und psychologischen Auswirkungen von Architektur und familiären Beziehungen untersucht.
Shelley Klein erlebt Trauer als straffes Bündel aus Emotionen: Schuld, Ärger, Liebe und Bedauern.
Eine Empfehlung
Insgesamt ist “The See-Through House” eine bewegende Erzählung, die persönliche Erinnerungen mit Architektur, Kunst und Familie verknüpft. Das Buch hat auch Witz. Zum Beispiel dann, wenn die Autorin in der Eingangshalle genüsslich an die Zeit erinnert, als der richtige Stuhl am richtigen Ort nicht unbedingt zum Sitzen gedacht war. Im Buch ist es der PK25 des dänischen Designers Poul Kjaerholm, Ausdruck von Sparsamkeit in Z-Form, bei Kleins ein Objekt im Raum, nicht zum Sitzen oder als Kleiderablage gedacht. Gerade die etwas andere Perspektive von Shelley auf die Architektur des Pavillons macht das Buch besonders. Sie lädt die Leserschaft ein, Komplize oder Komplizin zu werden; genau zu beobachten, wie das Haus erdacht, gelebt und erlebt wurde. Für die Leser:innen mit Architekturbrille kann das Buch – trotz mehreren mit Blick in die damalige Szene der Modernen Architekten – an manchen Stellen etwas langatmig oder zu sentimental wirken. Architekt:innen, Gestalter:innen und Kulturinteressierte, die nur in den Ferien die Musse und Ablenkung für alternativen Lesestoff zu Fachbüchern und Fachzeitschriften finden, werden das Buch gerne lesen – und die Bildstrecke anschauen.
Sanierung mit Akribie und Strenge
Peter Womersley gilt heute als ein bedeutender Architekt des 20. Jahrhunderts. High Sunderland war sein erstes Wohnhaus. Die Auftraggeber lebten dort von 1957 bis zu ihrem Tod. Heute ist der langgezogene Pavillon im Besitz von Historiker:innen. Sie kauften das denkmalgeschützte Objekt 2017 nach einem Brand, gemäss Maklerangaben zum Preis von £795.000. Um die architektonische Integrität zu bewahren und gleichzeitig die Energieeffizienz zu erhöhen, wurden historische Elemente originalgetreu wiederhergestellt und moderne Technologien eingesetzt. Die Architekten äußerten sich dazu in der Zeitschrift Wallpaper* vom 13. Oktober 2020: “Jeder Vorschlag für ein streng im Mies’schen Stil geplantes modernistisches Haus wie High Sunderland muss in ähnlicher Weise angegangen werden – mit Strenge und akribischer Liebe zum Detail.”
Shelley Klein, The See-Through House, My father in full Colour (englisch 2021), Vintage