Häuser wie die Obergrundstrasse 21 in Luzern leisten Widerstand gegen die bauliche Stadtentwicklung. Wie kommt das?

Seit Jahren wundert es mich, wie es möglich ist, dass das kleine Haus an der Obergrundstrasse 21 in Luzern bis heute stehen geblieben ist. Grösse, Form, Nutzung stehen völlig quer zur Nachbarschaft, im wahrsten Sinne. Die Antwort auf meine Frage lautet: Das putzige Haus hat erfolgreich Widerstand geleistet, obwohl es schon 1950, damals noch zusammen mit dem Rest der Häuserzeile, als fremd in seiner Umgebung bezeichnet wurde: “Kein Zweifel, unsere alten Häuserzeilen nehmen sich angesichts des neuzeitlichen Verkehrs seltsam aus” (LNN. 1.8.1950).

Bei der Betrachtung der Liegenschaft scheint es, dass die zu erwartende bauliche Entwicklung sich hier eine Auszeit leistet. Eine Auszeit, englische Planer nennen das Phänomen period of resistance, beschreibt die Entwicklung einer Stadt, eines Areals, Grundstücks oder Bauwerks, die den Bestand (für eine bestimmte oder unbestimmte Zeit) so belässt, wie er ist. Die Auszeit ist oft durch eine historisch, sozial oder kulturell nachgewiesene, grundsätzliche Widerstandskraft (eben eine Periode des Widerstands) begründet. Sie liegt fern von Renditeüberlegungen. Die Chancen liegen anderswo. Ist die Auszeit eines Gebäudes stark genug, die Eigentümer offen und die Politik mutig , kann eine planerische oder bauliche Auszeit selbst organisierten Wandel und sogar unkontrollierte Nutzungen zulassen, d.h. die Durchsetzungskraft für eine ungeplante, temporäre Umzonung haben. Die Stadt Berlin hat solche Orte mit einer planerischen Auszeit nach der Wende z.B. in Mitte eingerichtet. Luzern hat den Sedel bis heute erhalten. Zwischennutzungen in ehemaligen Industriearealen oder auf Brachen können ebenfalls als eine Form von Auszeit gesehen werden.

Zurück zum Beispiel an der Obergrundstrasse 21 in Luzern: Das Haus war einst Teil der Häusergruppe Nr. 21-31 entlang der Obergrundstrasse, die seit dem 18. Jahrhundert aktenkundig ist. 1950, anlässlich der Sanierung der Moosstrasse, wurde die Häuserzeile mit Ausnahme der Nummer 21 abgebrochen (LNN, 1.8. 1950, Vaterland 5.2. 1980). Auf dem Weg nach Kriens, dem Krienbach folgend, hat ein Vorstadthäuschen aus dem 18. Jahrhundert bis heute einer baulichen Verdichtung erfolgreich Widerstand geleistet.

Was ist eigentlich urbaner Widerstand: Physik, Politik, Psychologie oder Foucault?

Widerstände werden in der Physik dazu verwendet, um den elektrischen Strom auf sinnvolle Werte zu begrenzen bzw. um elektrische Energie in Wärmeenergie umzuwandeln. Als technische und physikalische Größen ist Widerstand eine hemmende physikalische Kraft. Widerstand bedeutet in der Psychologie eine Ablehnung oder Abwehrhaltung. Politisch verweigert Widerstand die Gehorsamsverweigerung und Opposition gegen die Obrigkeit, zum Beispiel durch das Auflösen von Hausbesetzungen.

Michel Foucault hat Widerstand als Angriff auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse definiert, die sich in eben diesen Verhältnissen bewegen und etablieren. Daraus zieht er den Schluss, dass sich Widerstand als Gegenpol mit der Macht wechselseitig bedingt. Machtverhältnisse können nur durch eine Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, diese sind im Machtnetz präsent sowohl als Gegner wie auch als Stützpunkte, als Einfallstore und Zielscheiben (Wicki). Die illegale Aktion” Danslieu” 2006 an bester Lage vor dem Kongresshaus in Zürich hat vorgeführt, was das bedeutet. Nach dem Start der Aktion waren die Medien sofort da, um über die kreative Besetzerstadt aus Pappe, Stroh, Stoff, Draht und Holz (vgl. Bild mit aufgemalten Kameras) zu berichten; Politik und Polizei auch, und dennoch: Die demonstrativ vorgeführte Illegalität im öffentliche Stadtraum (es wurde dort auch geschlafen und ungeniert auf den Quai uriniert) wurde ein paar Tage lang geduldet.  Widerstand wurde in seiner kulturell und ideell überhöhten Form unausgesprochen als Teil des damals noch nicht geborenen Slogans “Wir leben Zürich” interpretiert. ETH und UNI hatten gerade Semesterferien.

Ausdruck mutiger Stadtentwicklung

Glauben wir Foucault, dann gilt 1.: Widerstand ist immer Teil einer Stadtentwicklung, ob er sich nun durch alte Bausubstanz, Aktionen im öffentlichen Raum oder in Hausbesetzungen äussert. 2. Die Geschichte urbaner Auszeiten kann noch geschrieben werden, so auch an der Obergrundstrasse 21. 3. Wer weiss, vielleicht wird die Auszeit sogar in städtebauliche Planungen und Projekte aufgenommen – dereinst. 4. Städtebauliche Auszeiten sind unter den Vorzeichen einer mutigen Stadtentwicklungspolitik ein möglicher Nährboden und Motor für innovativen Bedeutungswandel, den jede Stadt benötigt, will sie sich nicht auf Imagekampagnen und auf die Höhen und Tiefen im Immobilienmarkt verlassen. Vielleicht gilt sogar: Räumliche, bzw. bauliche Auszeiten sind unmittelbarer Ausdruck für die Toleranz einer Stadt oder eines Quartiers und ziehen so Talente an.