Jan Albert Blaauw will in den Privatgärten von Almere Oosterwold die weltweit grösste städtische Landwirtschaftsproduktion realisieren. Dazu gründete er eine Genossenschaft.

Für Jan-Albert Blaauw (57) ist die landwirtschaftliche Produktion die Kernidee und das eigentliche Potential der Gebietsentwicklung in Oosterwold. Mit der Coöperatie Stadslandbouw Oosterwold (CSO), die er 2020 mitgegründet hat, verfolgt er im Südosten der Pionierstadt Almere deshalb eine kühne Vision: die weltweit grösste, städtische Landwirtschaftsproduktion in tausenden von Privatgärten. Er stellt damit gleichzeitig ein politisches Hauptziel von Oosterwold auf den Prüfstand: die Gebietsentwicklung auf der Grundlage einer lokalen Lebensmittelproduktion. Die Rolle als designierter Regisseur in einer Schar von freiwillig organisierten, gut vernetzten und ambitionierten Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ist auf Jan Albert Blaauw zugeschnitten: Er ist professioneller Vermittler und Optimist. Zudem scheut er auch mögliche Risiken nicht, das hat er schon bewiesen, als er 2015 als Pionier nach Oosterwold zog. Stadtfragen hat den ehemaligen Public-Affairs-Manager an der Floriade 2022 im District Utopia Island und in seinem Haus in Oosterwold zu zwei Gesprächen getroffen.

Jan, wie wohl ist es dir auf Utopia Island?

Ich bin glücklich, dass wir unser Projekt für eine urbane Landwirtschaft in Oosterwold überhaupt an der Floriade 2022 zeigen dürfen. Ich kann deshalb gut damit leben, dass wir fälschlicherweise auf Utopia Island gelandet sind: Wie unsere Ausstellung zeigt, ist Oosterwold ja bereits Realität.

Und wie ist es, als Pionier von 2015 heute in Oosterwold zu leben?

Nach wie vor unglaublich spannend. Wir waren 2015 als Familie bei den ersten, die hinaus nach Oosterwold gezogen sind. Das war damals noch ein kleines Abenteuer und ein Risiko. Viele glaubten nicht daran, dass an diesem Ort eine Siedlung entstehen und wachsen kann, bei der baulich alles möglich ist und die Regel gilt, dass mindestens die Hälfte des eigenen Gartens landwirtschaftlich zu nutzen ist.

Trotzdem sind die Leute gekommen. Bis 2019 rund 500. Heute leben gegen 2’000 Menschen in Oosterwold. Was hat sich seit 2015 verändert?

Es sind sehr unterschiedliche Menschen nach Oosterwold gezogen, die Siedlung wächst, sie geniesst internationale Aufmerksamkeit und – das ist das wichtigste – sie ist landwirtschaftlich, baulich und sozialräumlich unglaublich vielfältig. Gleichzeitig hat sich am Immobilienmarkt das Verhältnis von Angebot und Nachfrage stark verändert. 2015 verkaufte uns die Stadt Almere das Bauland zum Preis von 27 Euro/m2. Heute sind in Oosterwold die Parzellen der Phase 1A praktisch ausverkauft, der staatliche Landpreis beträgt über 100 Euro/m2, und der Marktpreis für bestehende Liegenschaften liegt noch um ein Vielfaches höher.

Wie erklärst du dir diese Entwicklung?

Oosterwold ist immer attraktiver geworden. Das Projekt war ursprünglich eine politische Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 bzw. den stagnierenden Immobilienmarkt in den nachfolgenden Jahren. Hinzu kam die für die Niederlande untypische Vision und Botschaft des damaligen Stadtrats Adri Duivensteijn, die sinngemäss lautete, dass Almere in Oosterwold den Menschen ermöglicht, so zu bauen, wie sie das wollten. Das Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit beim Bau des Eigenheims kam einem politischen Mentalitäts- und Systemwandel gleich. Man könnte auch sagen: In Oosterwold hat Almere die Idee der Selbstbauweise auf die Spitze getrieben. Was der Idee politisch zusätzlich zur Umsetzung verhalf, war die Aussicht, dass bei der Gebietsentwicklung nach dem Prinzip Do-it-yourself die sonst üblichen öffentlichen Investitionen wegfallen sollten: Die Erschliessung sowie die Ver- und Entsorgung sind in Oosterwold bekanntlich Privatsache.

Trotz dieser freiheitlichen Versprechen: Die Entwicklung startete zuerst schleppend.

Ja, es brauchte 2015 noch Mut und Risikofreude, an einem Ort zum Beispiel 2’000 m2 Land zu kaufen, wo es noch keine Häuser gab. Mittlerweile ist die Situation am Immobilienmarkt eine andere: Die Unsicherheit ist in Oosterwold zahlreichen Häusern und Gärten gewichen, die Zinsen sind tief, das Angebot, vor allem an bezahlbaren und grösseren Landflächen, ist in den Niederlanden äusserst knapp. Die globale Nachhaltigkeits- und Klimadiskussion hat zudem bei noch mehr Menschen wohl den Wunsch verstärkt, sich ein Haus auf dem ruhigen Land zu bauen und dort in einer Gemeinschaft zu leben, die sich ökologiefreundlich und weitgehend selbst lokal organisiert und versorgt. So ist Oosterwold sehr attraktiv geworden.

Und wie lautet deine persönliche Bilanz zu Oosterwold bisher?

Aus meiner Sicht ist das Modell Do-it-yourself-Urbanismus ein Erfolgsmodell. Sein Potential für die städtische Landwirtschaft der Zukunft ist allerdings bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

Teilt die Stadt Almere deine positive Einschätzung?

Das musst du die Stadt fragen. Mein Eindruck ist, dass Oosterwold für einige Behördenmitglieder eher eine Last bedeutet, was verständlich ist, weil Oosterwold mit seinem Regelwerk eben ein Experiment darstellt, das in der Umsetzung offene Fragen und Konflikte mit sich bringt. Ein Handbuch genügt dann nicht mehr. An der Floriade habe ich jedoch den Eindruck erhalten, dass die Stadt stolz ist auf ihr Experiment. Und das geht ja noch weiter.

Die vertraglich festgelegte landwirtschaftliche Nutzfläche in den Privatgärten gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen. Bei der Standardbewilligung für Wohnungen sind es 51% der Parzellenfläche. Hast du die Lösung?

Meine Absicht ist es nicht, ein Problem zu lösen. Für mich ist die städtische Landwirtschaft die eigentliche Kernidee und deshalb das wichtigste Thema überhaupt in Oosterwold. Deshalb engagiere ich mich seit drei Jahren dafür, eine zukunftsfähige städtische Landwirtschaft aufzubauen, die es ermöglicht, die Einkaufskörbe der Stadt Almere mit lokalen Produkten zu füllen.

Und was treibt dich an?

Man muss sich nur vorstellen, wie gross das Potential der landwirtschaftlichen Produktion in den Gärten von 15’000 Haushalten sein wird. Meine Vision ist es, auf der Siedlungsfläche von Oosterwold, das sind rund 4’300 Hektaren, das weltweit grösste, städtische Landwirtschaftsprojekt aufzubauen und umzusetzen. Nach dem Prinzip der nachhaltigen, lokalen Selbstversorgung können wir damit in der Stadtentwicklung einen völlig neuen Umgang mit der Ernährung etablieren: Das ist doch grossartig! Politik, Landwirtschaft und Bauherrschaften schaffen das in Oosterwold jedoch nur mit einer gemeinsamen Vision, vernetzt, in einem freiwilligen Rahmen und im grossen Masstab.

Du hast deshalb die Genossenschaft Coöperatie Stadslandbouw Oosterwold (CSO) gegründet. Wie kam es dazu?

2019 stellte ich zusammen mit einem befreundeten Architekten fest, dass die 50%-Regel bei der landwirtschaftlichen Nutzung der privaten Gärten zwar in Richtlinien beschrieben, dennoch aber für viele unklar war. Es fehlte an Wissen, Erfahrung und an der übergeordneten Koordination der Produktion z.B. der Festlegung einer sinnvollen Dichte an Obstbäumen und Gemüsegärten. Wir sahen: Die städtische Landwirtschaft in Oosterwold benötigte zwei Dinge: erstens eine lokale Organisation für die vernetzte Produktion und zweitens einen Ort für den Verkauf. Die Coöperatie Stadslandbouw Oosterwold (CSO) gründeten wir 2020. Ein erstes Projekt Food-Hub für unsere Produkte scheiterte leider an der Standortbewilligung. Die Genossenschaft gibt es trotzdem weiterhin – und sie wächst. Aktuell sind wir 60 Mitglieder, 2023 sollen es dann 200 sein. Wir sind zuversichtlich, dass wir für die Markthalle, die wir planen, bald die richtige Partnerschaft finden.

Worin liegt der Unterschied zwischen der CSO und bereits aktiven Genossenschaften?

Einmalig an der CSO ist, dass die landwirtschaftlichen Produkte, ich spreche von Gemüse und Früchten, in den klein strukturierten, privaten Gärten von Oosterwold wachsen, sowohl zur Selbstversorgung dienen und auf dem lokalen städtischen Markt verkauft werden. An der Floriade zeigen wir den Besuchenden auf, wer diese Weinbauern, Obstbaumzüchter, Marmeladenmacher und Imker von Oosterwold sind, und wie sie urbane Landwirtschaft betreiben.

Hast du schon eine Vorstellung von der möglichen Produktionsmenge?

Die staatlichen Behörden, die Oosterwold lancierten, formulierten 2013 die Vision, in Oosterwold zehn Prozent des landwirtschaftlichen Nahrungsmittelkorbs für die Region Almere produzieren zu können. Ein einfaches Zahlenspiel zeigt, das diese Vision rechnerisch möglich ist: Wir wissen, dass ein Mensch rund 400 m2 Land für 60-70% seines Nahrungsmittelbedarfs benötigt. In Oosterwold stehen uns gesamthaft rund 2’000 Hektaren bzw. 20 Mio mlandwirtschaftlich nutzbares Land zur Verfügung. Das entspricht einer Anbaufläche für den Warenkorb von 50’000 Menschen. Rechnen wir in Oosterwold mit zwei Personen pro Haushalt und damit 30’000 Selbstversorgenden, dann bleiben rund 20’000 Warenkörbe für die übrige Stadtbevölkerung, für zehn Prozent der 200’000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Das Haus, das Jan-Albert Blaauw für sich und seine Familie gebaut hat, ist Teil einer Siedlung, die aus mehreren gleichen Häusern besteht. Sein eigener Obst- und Gemüsegarten befindet sich auf der Rückseite des Hauses.

Und in der Praxis?

Die Praxis liegt noch vor uns. Wir sind uns bewusst, dass unsere Vision in zehn bis fünfzehn Jahren umsetzbar ist. Mit der CSO haben wir ein ersten guten Schritt für den Aufbau geschaffen.

Wie viel wird in Oosterwold aktuell produziert?

Wir schätzen, dass unsere 60 Mitglieder heute in der Lage sind, rund 15’000 Kilo Gemüse und Früchte zu produzieren. Wir verkauften im letzten Jahr in einem Pilotprojekt die Produkte von sieben Mitgliedern der CSO in einem Shoppingcenter: mit Erfolg. Gleichzeitig liessen wir unser Produktions- und Geschäftsmodell von der Universität Wageningen überprüfen. Kein Geheimnis ist es, dass heute längst nicht alle Haushalte in Oosterwold unsere Vision von einer vernetzten städtischen Landwirtschaft teilen, mit anderen Worten: Die geforderten landwirtschaftlichen Flächen sind noch längst nicht überall vorhanden. Trotzdem sind wir optimistisch, dass künftig eine grössere Anzahl von Landbesitzenden unsere Vorstellungen und Absichten teilt.

Und wie motiviert ihr sie dazu, in die genossenschaftliche Produktion einzusteigen?

Dafür gibt es, neben der gemeinsamen Vision, einige gute Gründe: Die Mitglieder der CSO profitieren von einer übergeordneten Anbau- und Angebotsplanung, sie erhalten das Saatgut, werden bei ihrer Bewirtschaftung fachlich unterstützt und müssen sich nicht um die Ernte kümmern. Für die übergeordnete Planung der Aussaat, die Koordination der Pflege und der Ernte sowie für den Verkauf der Produktion entwickeln wir eine App. Die einzelnen Haushalte erhalten zudem einen finanziellen Anreiz, wenn sie sich als Produzentinnen und Produzenten der Genossenschaft anschliessen.

Sehr wichtig ist uns, aufzuzeigen, dass die landwirtschaftliche Produktion im eigenen Garten nicht zeitaufwändig oder schwierig sein muss. Im Gegenteil: Sie macht viel Spaß, mit den richtigen Methoden und gemeinsam umso mehr.

Die Hausbesitzenden in Oosterwold sind Hobby-Bauern. Wie stellt die CSO die Qualität der Produkte sicher, denn sie garantiert letztlich den Verkaufspreis?

Meine Erfahrung ist, dass viele von unseren Produzentinnen und Produzenten in Oosterwold den persönlichen Antrieb und sehr viel Ahnung davon haben, was und wie sie in ihren Gärten produzieren: Das sind mindestens zur Hälfte keine Hobby-Bauersleute, sondern aus meiner Sicht echte Profis. Zusätzlich garantieren die Regeln der CSO, dass die Qualität der produzierten Erzeugnisse stimmt. Zum Beispiel dürfen beim Anbau keine Kunstdünger und sonstige Gifte verwendet werden. Weil wir das Saatgut zur Verfügung stellen, wissen wir sehr genau, was in die Erde gelangt.

Ein Bild mit Symbolcharakter: Die traditionelle Landwirtschaft auf dem Hof Vliervelden (Acker im Vordergrund) und die Vision von der weltweit grössten landwirtschaftlichen Produktion in tausenden von privaten Gärten von Oosterwold (am Horizont) treffen direkt aufeinander.

Welche Rolle spielt die Genossenschaft Stadsboerderij Almere, die in Oosterwold seit Jahren produziert, einen Wochenmarkt durchführt und einen Verkaufsladen angesiedelt hat?

Das Konzept der herkömmlichen Landwirtschaftsproduktion ist ein anderes. Der Stadtbauernhof produziert auf grösseren zusammenhängenden Flächen und für einen anderen Markt. Zudem dürfen wir nicht vergessen: Daneben gibt es in Oosterwold weitere kleinere Initiativen, die in nachbarschaftlichen Formen städtische Landwirtschaft betreiben. Deshalb ist es so spannend, mitzuerleben, wie sich die Landwirtschaft in Oosterwold und die daran beteiligten Akteure gerade jetzt und künftig entwickeln.

In deiner Vision gehst du vom Endzustand der Gebietsentwicklung mit 15’000 Haushalten aus. Bis heute ist die städtische Landwirtschaft in Oosterwold erst auf weniger als einem Drittel der Fläche realisierbar. Wie es in den nächsten Bauetappen weitergeht, ist noch offen. Machst du dir keine Sorgen, dass die Regeln für die landwirtschaftliche Produktion auf den Privatparzellen ändern?

Das ist ein guter Punkt. Wie die Regeln in den nächsten Bauetappen aussehen werden, steht aktuell zur Diskusson. Regeln können sich immer in eine bessere oder eine schlechtere Richtung verändern. Bis Klarheit herrscht, verfolgen wir weiterhin unsere Ziele.

Hast du einen Plan B?

Ich bin Optimist, glaube an unsere Vision und werde sie zusammen mit vielen anderen Leuten weiterverfolgen. Mein Plan B liegt im Norden der Niederlande, dort habe ich meine Wurzeln.

Die Studienreise wir durch die Stiftung Otto Pfeifer unterstützt.