Die Stadtentwicklung in Almere Oosterwold treibt die Freiheiten beim Bau des Eigenheims auf die Spitze. Statt traditionellen Planzeichnungen gelten Regeln für die Selbstbauweise. Zudem gründet die Siedlungsentwicklung auf der Idee der lokalen Nahrungsmittelproduktion, mit anderen Worten: Hausbesitzende sind gleichzeitig Bauersleute. Stadtfragen hat mehrere Wochen vor Ort im PfeiferMobil gewohnt, Menschen und ihre Häuser porträtiert und private Initiativen zum Urban Farming recherchiert. Im Sommer wird politisch über die weiteren Bauetappen entschieden.
Die Stadt Almere (220’000 EW) liegt ausserhalb von Amsterdam auf Flevoland, einem Polder. Almere wurde 1976 erstmals besiedelt. Die Vorgeschichte des ländlichen Stadtteils Almere Oosterwold hat mit Finanz-, Planungs- und Immobilienpolitik zu tun. Und vor über zehn Jahren verpackte die Politik einen visionären Ansatz in eine einfache Botschaft: Lassen wir die Menschen in Oosterwold möglichst ohne Staat bauen; also möglichst so, wie sie es selbst wollen: People make the city! Bei der Besiedlung von Oosterwold gelten seither statt behördlichen Planzeichnungen ein paar wenige Regeln zur Selbstbauweise: Zäune sind nicht erlaubt, um jede Parzelle muss ein öffentlicher Weg führen. Hinzu kommt die Eigenverantwortung beim Bau der Erschliessung und bei der Ver- und Entsorgung mit Wasser und Energie. Das dazugehörige städtebauliche Szenario Do-it-yourself-Urbanismus ist eine Erfindung der niederländischen Architekten MVRDV. Neben der eigenverantwortlich und organisch wachsenden Siedlungsentwicklung beinhaltet das Szenario auch die Absicht, Siedlungsentwicklung mit der lokalen Landwirtschaft zu verbinden: In Oosterwold müssen per Vertrag alle privaten Wohnparzellen zu mindestens 51% landwirtschaftlich genutzt sein.
Fruchtbarer Boden
Die Retortenstadt Almere liegt auf Flevoland, einem Polder östlich von Amsterdam. Nach der Trockenlegung des Polders ab 1961 wurde die Stadt 1976 erstmals besiedelt. Der ehemalige Meeresgrund macht die Gegend für die Landwirtschaft besonders fruchtbar. Die Stadt liegt heute zwei bis fünf Meter unter dem Meeresspiegel. 47.6% der Fläche sind Wasser. Wer in Oosterwold baut, trifft im Winter nach einem und im Sommer nach rund eineinhalb Metern auf Grundwasser. Das salzhaltige Brackwasser liegt fünf bis zehn Meter tief unter der Erde.
Gelebte Individualität und geplantes Chaos
Das bisherige Resultat des Experiments in Oosterwold kurz zusammengefasst: 1’878 registrierte Einwohner/innen, die in einer vielfältigen Architektur- und Gartenlandschaft leben; private Initiativen zur landwirtschaftlichen Nutzung und zum Zusammenleben; offene politische, technische und juristische Fragen zur Umsetzung der Selbstbauweise; explodierende Landpreise; sozialräumliche Spannungen zwischen Freiheitsvorstellungen und der vertraglich geforderten Selbstverantwortung; verunsicherte politische Behörden und internationale Medienberichte. Für die einen steht Oosterwold für das Paradies, gelebte Individualität und die Zukunft der wachsenden grünen Stadt, für die anderen ist der Ort ein geplantes Chaos mit vielen offenen Fragen und konfliktanfälligen Entwicklungsthemen. Der Besuch vor Ort zeigt: Oosterwold ist wohl von allem etwas.
Wie geht es weiter?
Die New York Times hat den Ort treffend als «The most planned unplanned place around» bezeichnet. Wer in Oosterwold sein Haus «nach den eigenen Träumen und Überzeugungen gestaltet», wie die offizielle Sprachregelung lautet, hat sich nämlich auch um die Parzellengrösse, die Lage des Gebäude, die Wasserwirtschaft, die Abwasseraufbereitung, die Energieversorgung, Umweltstandards sowie die Sicherheit und Zugänglichkeit des Gebiets zu sorgen. Der Bau und der Unterhalt der Zufahrtsstrassen sind vertraglich separat und zusammen mit den Nachbarn zu lösen. Geplant sind in Oosterwold insgesamt 15.000 Haushaltungen für über 30.000 Einwohner/innen. Das Entwicklungsgebiet umfasst 4’300 ha bzw. 43 km2 Land auf dem Gebiet von Almere (Etappe 1A und AB) und Zeewolde (Etappe 2A-C). Die Etappe 1A, rund 700 ha Land, ist verkauft und weitgehend überbaut. Der neu gewählte Stadtrat von Almere will bis in diesem Sommer «aufgrund der gemachten Erfahrungen», wie er schreibt, entscheiden, wann und wie es mit Oosterwold 2.0 weitergeht. Aktuell werden keine Parzellen verkauft.
Dérive als Methode
Ein Dérive steht in Anlehnung an die französischen Künstlergruppe Situationistische Internationale für die berechnete Spontaneität bei der Erkundung eines Ortes: Durch den Aufenthalt vor Ort, auf Spaziergängen, in Gesprächen und auf Velofahrten entsteht eine zufällige Collage aus Informationen, Bildern und Gesprächsnotizen. Was einfach klingt, ist in der Umsetzung ein journalistisches und ein soziales Experiment: Lassen die Einwohner/innen von Oosterwold es zu, ihre privaten Geschichten zu erzählen und zu publizieren?
Die nachfolgende Bildstrecke (Bilder: Stadtfragen 2022) ist aus mehreren, vom Zufall und vom Gegenwind geleiteten Fahrradtouren durch Almere Oosterwold entstanden.