Die Stadsboerderij Almere ist ein Vorzeigebetrieb in urbaner Landwirtschaft. In Oosterwold hat der Betrieb 2017 rund 40 ha Land erworben und den Hof Vliervelden realisiert – mit Ackerland, Ställen, Privathäusern, Eigentumswohnungen und einem Laden. Das Modell könnte für die Zukunft wegweisend sein.

Tineke van den Berg und Tom Saat bauen am Stadtrand von Almere bereits seit Jahren biologisch-dynamisch Getreide und Gemüse an, sie halten Kühe und betreiben ein Zentrum für Begegnung. Urban Farming hat für sie nichts mit Schicki-Micki-Gemüseanbau auf der Dachterrasse in Down Town irgendwo zutun. Ihre städtischer Landwirtschaftsbetrieb steht für die hauptsächliche Lebensmittelproduktion im Ballungsgebiet der Stadt Almere u.a. auch zur Deckung des Eigenbedarfs seiner rund 220’000 Einwohnerinnen und Einwohner. Mit der Realisierung einer privaten Wohnsiedlung auf ihrem Bauernhof Vliervelden in Oosterwold hat der Stadtbauernhof Almere das Verständnis davon, was Urban Farming in Zukunft sein könnte, um einen Schritt erweitert.

In Almere Hout gut geerdet

Bäuerin Tineke van den Berg und Bauer Tom Saat gründeten 1996 die Stadsboerderij Almere. Im Umgang mit Agrarprodukten sind sie seither ebenso produktiv wie konsequent unterwegs. Der Name Stadsboerderij (Stadtbauernhof) gibt unmissverständlich zu verstehen, dass sie gegenüber landwirtschaftlichen Themen in der Stadtentwicklung nicht nur offen sind; sie wollen sie aktiv mitgestalten. In Almere Hout, dem fünften, ländlich geprägten Stadtteil von Almere, zu dem auch das Gebiet Oosterwold gehört, sind Tineke und Tom mit ihrem Betrieb deshalb gut geerdet – im wahrsten und im übertragenen Sinn. Ihre Vision: In der jüngsten Stadt der Niederlande wollen sie einen Beitrag an die Zukunft der städtischen Landwirtschaft leisten. «Unser Stadtbauernhof De Kemphaan verbindet bereits seit Jahren die Forderungen nach der wachsenden grünen Stadt und die Chancen der fruchtbaren Polderlandschaft für die Lebensmittelproduktion miteinander», erzählt mir Tineke am Küchentisch.

Auf ihrem biologisch-dynamischen Bauernbetrieb steht die Gesundheit des Bodens an erster Stelle, die tägliche Arbeit erfordert Fingerspitzengefühl: «Beobachten, lesen und nachdenken über die Folgen der eigenen Handlungen sind ganz wichtige Aufgaben», weiss Tineke. Die Tragfähigkeit ihres Betriebs hänge von der Kapazität und Bodenbeschaffenheit, von der Menge an verfügbarem Dünger und von den handwerklichen Fähigkeiten ab. Die Vielfalt an Aufgaben meistern die Eigentümer durch Arbeitsteilung: Tom’s Vorliebe ist der Anbau auf dem Feld, Tineke ist mehr daran interessiert, die Idee des Stadtbauernhofs zu pflegen und weiter auszubauen. «Dabei fragen wir gegenüber der Stadt nie zuerst nach dem Profit, sondern danach, was wir anbieten können», erklärt die Bäuerin. Der Stadtbauernhof bietet bereits mehr an, als ein üblicher Landwirtschaftsbetrieb: Neben der landwirtschaftlichen Produktion gibt es auf dem Hof De Kemphaan jeden Samstag einen Wochenmarkt. Zudem verfügt der Stadtbauernhof über eine eigene Infrastruktur für Seminare, Weiterbildungen und kulturelle Veranstaltungen. Der Dialog der Stadsboerderij mit seiner Umwelt ist bei uns Programm: «Durch Angebote und Produkte entstehen Dialoge und daraus wiederum tragfähige Verbindungen», ist Tineke überzeugt. Auch ihre Kühe, die sie besonders gut mag, spielten im Dialog mit den Menschen eine zentrale Rolle.

Der Hof Vliervelden, umgeben von rund 40 ha Landwirtschaftsfläche, umfasst Bauernhäuser, Privathäuser und einen Odin-Laden. Die rote Dachlandschaft verbindet die Gebäude zu einem Ensemble. (Bild: Google Maps)

Stadt und Landwirtschaft verbinden

Tineke hat gute Sensoren dafür, im richtigen Moment zu handeln. Im Austausch u.a. mit der Universität in Wageningen hätten sie das Feld für die urbane Landwirtschaft in Almere rechtzeitig vorbereitet, erinnert sie sich. Das wohnungspolitische Experiment Oosterwold, das der damalige Stadtrat Adri Duivesteijn visionär vorbereitet und im Zuge der Finanz- und Immobilienkrise nach 2008 politisch lancierte hatte, sei dann für sie zum richtigen Zeitpunkt gekommen, um einen Traum zu erfüllen. «2017 unterbreiteten wir der Stadt Almere ein Kaufangebot für 43 ha Land, um den Hof Vliervelden in Oosterwold zu realisieren». Damit war in der ersten Phase der Entwicklung von Oosterwold das verfügbare Kontingent für eine hauptsächlich agrarische Nutzung bereits konsumiert. Heute gibt es im Umfeld der Stadsboerderij Almere noch einen weiteren Bauernbetrieb von ähnlicher Grösse. «Vor 25 Jahren waren es noch über 20 Bauern», gibt Tineke zu bedenken. Viele Bauern seien weggezogen, als klar wurde, dass die Stadt Almere im Südosten wachsen werde. «Für unsere Vision von einer städtischen Landwirtschaft war diese Entwicklung jedoch wegweisend». Mit der Bewilligung, im Rahmen der Stadtentwicklung in Oosterwold städtische Landwirtschaft zu betrieben, eröffnete sich für die Stadsboerderij die Möglichkeit, auf dem Hof Vliervelden beide Welten, Stadt und Landwirtschaft, ideell, räumlich, sozial und ökonomisch – man könnt sagen organisch – neu miteinander zu verbinden.

Rotes Land für Landwirtschaftsgebäude und Wohnhäuser

Die Landwirtschaftsbewilligung für den Hof Vliervelden beinhaltet einen Flächenanteil von 93 Prozent für Ackerland sowie von sechs Prozent für das so genannte «rote Land». Die rund zweieinhalb Hektaren sind für Häuser (mit roten Dächern) vorgesehen: zu zwei Dritteln für Landwirtschaftsgebäude und zu einem Drittel für privates Wohnen. Tineke und Tom verfolgten einer Grundidee, als sie ihr rotes Land kompakt an einem Ort und direkt an der öffentlichen Haupterschliessung planten. Die Stadt stimmte dem Vorhaben zu. Die Siedlung mit der Adresse Friedrich Schillerhof, die daraus entstand, unterscheidet sich auf den ersten Blick von der umliegenden Streusiedlung: Die Landwirtschaftsgebäude, der gemeinsame Innenhof, die privaten Wohnhäuser, weitere Gebäude und die Freiräume bilden ein dörfliches Ensemble; eine räumliche, soziale und bauliche Einheit. Die Häuser in der Nachbarschaft, die gemäss der Standardbewilligung für das Wohnen entstanden sind, bezeichnet Tineke hingegen, mit einem Lächeln im Gesicht, als «Nice houses with a big garden». Ihre Kritik gilt den Streusiedlungen, die Oosterwold hauptsächlich produziert. Ginge es nach ihr, müssten alle Siedlungen kompakter sein und vor allem einer tragenden Idee für das Zusammenleben und für die landwirtschaftliche Nutzung folgen.

HOF VLIERVELDEN / Der fünfeckige Stall für das Heu (rechts) und der meist offene, grosse Kuhstall machten baulich den Anfang. Im Hintergrund die Wohnsiedlung mit 21 Eigentumswohnungen, die ein privater Investor realisiert hat. Die Architektur der Wohngebäude orientiert sich formal und farblich an der organischen Formensprache der Landwirtschaftsbauten. Alle Gebäude sind aus Holz.

Organisches Wachstum

Gestartet haben die Bauersleute in Vliervelden mit dem Bau der landwirtschaftlichen Gebäude: einem fünfeckigen Stall für die Heuballen und dem dominierenden grossen Kuhstall. Er steht die meiste Zeit offen. Für die sieben Privatparzellen, die in einem Halbkreis daran anschliessen, suchten Tom und Tineke danach geeignete Käuferinnen und Käufer bzw. die gewünschten Nachbarinnen und Nachbarn. Sie haben z.B. den Künstler Jos Bregmann oder die junge Familie eines Mitarbeiters. Das Wohnhaus mit 21 Wohnungen, das ein Immobilienentwickler umsetzte, kam später dazu. Eine 2-Zimmerwohnung mit 55 m2 Wohnfläche war dort 2020 für rund 250’000 Euro zu kaufen. Rund 11 Euro/m2 bezahlten die Bauern 2017 für ihr Landwirtschaftsland. Auf die Frage nach der Entwicklung der Landpreise in Oosterwold schüttelt Tineke den Kopf. Das letzte Gebäude der Siedlung, mit weiteren Wohnungen und einem Kindergarten, haben die Bauersleute dann selbst entworfen. Eingemietet hat sich dort im Erdgeschoss die Supermarkt-Kette ODIN. Auch bei diesem Angebot geht es für Tineke um Dialog: «Essen verbindet die Landwirtschaft mit den Konsumentinnen und Konsumenten.»

In ihrem Leben folgt Tineke bevorzug ihren Träumen, die sie dann schrittweise realisiert. «Messbare Ziele als Wegweiser, führen oft schnell zu Enttäuschungen», begründet sie ihre Lebenshaltung. Auf dem Hof Vliervelden hat sich ihr Traum von Wohn- und Arbeitsplätzen in einem landwirtschaftlichen Umfeld ganz erfüllt. Die Gebäude im Friedrich Schillerhof orientieren sich an der landwirtschaftlichen Gestalt des mächtigen, offenen Kuhstalls. Das Bauen mit Holz, die roten Dächer, die fliessenden Formen und die ‘fehlenden’ rechten Winkel sind einer organischen Architekturvorstellung entlehnt. Räumliche Organisation, die Gestaltung der Gebäude und das soziale Umfeld stimmen mit ihrer Wertvorstellung überein. «Was jetzt noch fehlt, ergänzt Tineke, ist ein Gebäude für die handwerkliche Herstellung unserer eigenen landwirtschaftlichen Produkte. Und wie reagieren die Menschen aus den «hübschen Häusern mit den grossen Gärten» auf den Hof und seine Gebäude? «Alle finden es schön bei uns, wir sind zu einem beliebten Treffpunkt geworden», deshalb wundere sie sich schon, so Tineke, weshalb nicht mehr Menschen in Oosterwold sich gemeinschaftlich organisieren und echte urbaner Landwirtschaft betreiben würden.

HOF VLIERVELDEN / Mitten auf dem Acker mit dem Blick auf die Nachbarschaft: Wie passen professionell betriebene urbane Landwirtschaft im grossen Maßstab und verstreute «schöne Privathäuser mit grossen Gärten» künftig zusammen?

Ändern die Regeln?

Die Bilanz der Bäuerin zum Urban Farming in Oosterwold fällt vorsichtig kritisch aus: «Wenn die Mehrheit der Leute hierherkommen, Land kaufen, im Garten drei Bäume pflanzen und es urbane Landwirtschaft nennen, dann ist die Ursprungsidee gescheitert, zukunftsorientiertes, städtisches Siedlungswachstum im Umfeld einer landwirtschaftlichen Produktion zu ermöglichen». In den Anfangsjahren von Oosterwold habe die Stadt, mutmasst sie, wohl zu wenig Regie geführt. Dass die heutige Produktion in den privaten Gärten zur Selbstversorgung oder für eine tragfähige landwirtschaftliche Genossenschaft reiche, bezweifelt sie deshalb: «Vielleicht ist das in zehn Jahren möglich, wenn die geplanten 15’000 Haushalte tatsächlich realisiert sind und die private landwirtschaftliche Bodennutzung in dieser Zeit deutlich an Qualität gewinnt.» Tineke weiss, dass diese Zukunft aktuell jedoch noch ziemlich offen ist. Sie nimmt an der Diskussion mit der Stadt über die weiteren Entwicklungsschritte in Oosterwold teil. Die wichtigsten Fragen an die Stadt Almere lauten: Wie geht es in Oosterwold weiter, und werden die Regeln angepasst? «Im Teilgebiet 1a verkaufen wir keine Wohnbauparzellen mehr», lautet die Auskunft der Kommunikationsbeauftragten Yolanda Sikking auf Anfrage. Das Angebot sei dort quasi ausgeschöpft. Gleichzeitig werde geprüft, ob Anpassungen und Korrekturen der Spielregeln in den Teilgebieten 1.b und 2.0 notwendig sind. «Wir gehen jedoch davon aus, dass die Regeln für Rad- und Fußwege sowie der geforderte 50 % Anteil landwirtschaftlich genutzter Flächen auf den Standardparzellen für das Wohnen bestehen bleiben», schreibt die Stadt weiter. Tineke van den Berg hat eine alternative Sichtweise. «Ich gehe davon aus, dass die Behörden die Regeln bezüglich der landwirtschaftlichen Nutzung anpassen werden, auch, weil wir in den Niederlanden und in Oosterwold künftig dichter bauen müssen». Sie kann sich dabei eine konkrete Alternative zur heutigen Streusiedlung vorstellen: kompakt organisierte, private Siedlungen auf grösseren, gemeinsam betriebenen Landwirtschaftsfläche, die als Commons betrieben werden. Bei der Entwicklung dieser Alternative könnte der Hof Vliervelden wegweisend sein.

Schnitt durch das Wohngebäude (Plan zvg)

Stadsboerderij Almere

Die Studienreise nach Almere hat die Stiftung Otto Pfeifer unterstützt.