Hans Ulrich Imesch (83) ist Architekt, Tiefenpsychologe und Kosmologe: Er war Dozent an der ETH Zürich, hat Häuser gebaut, Satellitenstädte entworfen, im Hochbauamt der Stadt Zürich Projekte bewilligt und in der Wüste Algeriens städtebauliche Forschung betrieben. Mit dem Institut für ganzheitliche Gestaltung Zürich (IGGZ) erklärte er die Werbung im öffentlichen Raum zur holistischen Aufgabe und realisierte u.a. klingende Telefonkabinen. Imesch unterrichtete und arbeitete als Psychologe nach C. G. Jung. Für die Weltgemeinschaft entwarf er das Monument of Peace. Stadtfragen traf ihn zu einem Gespräch ohne Agenda.
stadtfragen: Ich habe am Wochenende die Fondation Beyeler besucht und fragte mich dabei: Kann ich bei der aktuellen Weltlage noch guten Gewissens in ein Museum gehen? Imesch: Diese Frage kann jeder und jede nur für sich selbst beantworten.
Und deine Antwort lautet? Man kann einen Museumsbesuch heutzutage als nicht zeitgemäss bzw. Ablenkung bewerten. Ich sehe darin nichts Verwerfliches, eher die Möglichkeit, um mit dem Weltgeschehen besser zurechtzukommen. Es gibt Ereignisse, mit denen können wir schlecht umgehen. Wir verstehen sie nicht, können nicht direkt eingreifen und daher nichts bewirken. Um trotzdem über die Runden zu kommen, ist es durchaus sinnvoll, Bilder zu malen oder in ein Museum zu gehen. Tätigkeiten, die wir gerne tun, sind nicht unbedingt ein Zeichen von Verdrängung oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Weltgeschehen.
Ist das so, weil schöne Dinge uns im Leben Orientierung geben? Deine Frage hat mehr damit zu tun, wie wir in unserem Leben verschiedene Formen von Unordnung wahrnehmen: Ungerechtigkeit, Chaos, Bedrohung, Leid oder Gefahren. Aus Sicht des Psychologen ist Unordnung zunächst nichts anderes als die eigene gedankliche Bewertung eines Sachverhalts, über den wir kaum etwas wissen oder über den wir nur medial informiert sind. Aus dieser Sicht gibt es keine objektive Unordnung, kein Richtig oder Falsch, Gut oder Böse. Alles ist geordnet. Chaos und Unordnung existieren an sich nicht, sie bilden sich (unsichtbar) in uns selbst. Gleichzeitig sind wir unglaublichen Dingen ausgesetzt, die sichtbar und real sind: Kriegsbilder, Unfälle, Katastrophen. Zudem schiessen wir Apparate ins All, die uns neue Bilder liefern sollen. Wir bezeichnen sie als fantastisch oder chaotisch, weil wir nicht wissen, wie die Welt da draussen genau funktioniert. Für mich sind diese Bilder keine Abbilder von Chaos. Ich betrachte sie als Muster einer perfekten Ordnung, die wir nicht verstehen.
Das Begriffspaar Ordnung und Unordnung ist in der Architektur ein zentrales Thema. Wenn unsere Vorstellung davon seinen Ursprung in uns selbst hat: Ist dann der architektonische Entwurf nicht auch eine persönliche Projektionsfläche, ein Abbild des Innenlebens der an einem Bauwerk beteiligten Akteure? Da stimme ich dir zu, und der Grund ist einfach: Der Umgang mit einer gestalterischen Aufgabe, mit einem Objekt, ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst; mit den eigenen, ungelösten Fragen. Wir alle schleppen sie mit uns herum, was kein Makel ist. Entwerfen erlaubt uns, daran zu arbeiten. Das ist ein Privileg von Architekt:innen: Ein Haus, eine Siedlung oder eine Stadt als weltliche Gegenstände betrachten zu können, um seelische Themen abzuarbeiten, bewusst oder unbewusst. Wenn dem so ist, würde sich einfach erklären, weshalb beim Planen und Bauen sehr schnell Missverständnisse und Konflikte entstehen. Mit anderen Worten: Wir planen, entwerfen und bauen als Gestalter:innen immer auch Facetten für unser eigenes Zuhauses und unser eigenes Leben.
Chaos zeigt das Muster einer Ordnung, die wir nicht verstehen.
Also gilt: Zeig mir deine Häuser und ich sage dir, wer du bist? Städtische Räume und einzelne Bauten bieten mir tatsächlich interessanten Lesestoff zu Themen wie menschliche Typologien, psychologische Innenwelten oder Handlungsmuster. Vereinfacht erklärt: Die Allgemeinheit orientiert sich im Leben eher am Status-quo, an Trends, an Normen und Regeln. Rational denkende und handelnde Menschen identifizieren sich oft intensiv mit Theorien; gefühlsbetonte schaffen Atmosphäre; empfindungsbetonte eher Sinnlichkeit; intuitive Menschen drücken ihre Visionen und Fantasien aus. Die Qualitäten eines Ortes oder eines Gebäudes können, aus meiner Sicht als Tiefenpsychologe, sogar als Hinweise auf die innere Reife der beteiligten Akteure interpretiert werden.
Kannst du zur Illustration ein konkretes Beispiel nennen? (Pause) Ich möchte nicht ein einziges Bauwerk hervorheben, dennoch: Die Werke von bekannten Architekt:innen zeugen meiner Ansicht nach allgemein eher von einem hohen Entwicklungsstand ihrer psychologischen Grundfunktionen: Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren. Ihre Meisterschaft im Entwurf und das handwerkliche Können in der Umsetzung signalisieren eine grosse Freude am Tun sowie den lebhaften Bezug zur kreativen Quelle des Schöpferischen, kurz: eine grundsätzlich lebensbejahende Grundhaltung. Für mich persönlich zeugt gute Architektur von einem starken Selbstbewusstsein, das seine Wurzeln im kosmischen Zentrum hat: im Gefühl der Bewunderung, der Dankbarkeit und der Verantwortung gegenüber einer übergeordneten Ordnung.
Ok. Dann nehmen wir doch als konkretes Beispiel ein Gebäude, das du selbst entworfen hast. Vielleicht passt das Forschungslabor Unité de recherche médicales à Clermont-Ferrrand sur le métabolisme des moleculées marquées der Universitätsklinik in Clermont-Ferand (Frankreich) ganz gut. Ich habe es als Mitarbeiter bei Roland Mendelssohn im Paris der 1960er Jahre entworfen und dazu die Ausführungspläne gezeichnet. Bauherrschaft war die staatliche Forschungs- und Entwicklungseinrichtung INSERM.
Das Forschungslabor war 1965 meine letzte Arbeit bei Robert Mendelssohn. Ich erinnere mich gut: Er kam mit einem Stoss Papier zu mir und meinte, er reise nun in die Ferien. Ich las das Programm und war umgehend von der Aufgabe fasziniert: Institut de recherche sur le métabolisme des moleculées marquées! Ich hatte von der Forschung über den Stoffwechsel markierter Moleküle zwar keine Ahnung. Ich wusste nur, dass es um die Krebsforschung und um den Bau eines Reaktors ging. Beim Gedanken daran stellte ich mir ein gigantisches Ungeheuer vor, das in der Lage war, das ganze Gebäude in die Luft zu sprengen. Mein erster Gedanke war, ein Gebäude zu entwerfen, das sich sinnbildlich an der Erde festhält; mein zweiter Gedanke, das bauliche Ungeheuer unter der Erde, direkt neben dem Laborgebäude unterzubringen. Die Architektur sollte gleichzeitig Drama, Zukunft und Noblesse darstellen. Schliesslich ging es um die Gesundheit der Menschheit, um die edle Aufgabe, Krankheiten den Garaus zu machen! Zurück aus den Ferien, war Mendelssohn vom Entwurf begeistert. Dazu muss man wissen: Forschungszentren waren für uns damals so etwas wie architektonische Tempel.
Was erzählt uns das Labor über den damals 24jährigen Architekten Hans Ulrich Imesch? Ich erkenne darin die Manifestation meiner bis heute vorhandenen Begeisterung, kindlich-naiv den kreativen Quellen der Gestaltung nachzugehen. Dass Mendelssohn und das INSERM als Bauherrschaft den Entwurf in meiner Abwesenheit tel quel umgesetzt hatten, nahm ich mit Freude und einer Portion Ungläubigkeit zur Kenntnis. Ich lernte die Lektion, dass Architektur, als Prozess vom Entwurf bis zum fertigen Bau, immer ein Gemeinschaftswerk ist. Das Forschungslabor zeigt mir auf, dass ich als Architekt immer in einer Wechselbeziehung mit der jeweiligen Gesellschaft, dem Kollektiv stehe. Und dieses Kollektiv durchläuft verschiedene Phasen – ich nenne diese Phasen den jeweiligen Zeitgeist.
Und wie lautet der aktuelle Zeitgeist ? Er trägt den Namen Nachhaltigkeit! Als das Forschungslabor 1968 eröffnet wurde, war das noch anders: Ich erlebte vor allem eine breite Aufbruchstimmung und die Lust auf Innovation. Wenn ich heute mit dem Zug von Genf nach St.Gallen fahre und mir die Bebauungen anschaue, fällt mir leider auf, dass nur einige wenige Architekt:innen dem kollektiven Zeitgeist von damals gefolgt sind. Die Aufbruchstimmung wurde sichtbar zu wenig genutzt, um in der Architektur neue Wegmarken zu setzten. Die Folge sehen wir landauf, landab: eine Nivellierung der Architektursprache. Nur eine geringe Anzahl von so genannten Autor:innen hat es mit Wunderbauten geschafft – verdient oder unverdient – den Status Stararchitekt:in zu erreichen.
1968 war das Gründungsjahr des Club of Rome. Der nachhaltige Umgang mit Ressourcen war damals schon Zeitgeist: Heute herrschen Kriege, die Klimaveränderung und wirtschaftliche Ungleichheiten. Trotz Warnungen kämpfen viele Menschen für Rettung, Schutz und um ihr Überleben. Hast du keine Angst vor der Zerstörung unseres Planeten? Es ist ein normales Phänomen, dass wir Menschen Angst haben. Wir kommen auf die Welt und wissen kaum, was wir hier eigentlich tun sollen. Aber da wir nun schon mal leben, wollen wir auch überleben. Wegen unserer grundlegenden Existenzangst stellen wir uns ständig die Frage: «Wie überlebe ich?». Meine Antwort lautet: Wir überleben ganz natürlich, ohne viel Eigenes dazuzutun, dafür sorgt eine übergeordnete Stelle. Gleichzeitig haben wir Angst davor, unsere Sehnsüchte nicht erfüllen zu können. Hinzu kommt das Verlangen nach Frieden, Sicherheit, Ruhe, einem Job mit Einkommen, Glück, Gleichberechtigung und der Austausch mit anderen Menschen. Das sind die wesentlichen Sehnsüchte der Weltbevölkerung – auch wenn es momentan überhaupt nicht nach deren Befriedigung ausschaut.
Ich will damit die Katastrophen, die Kriege oder die Klimasünden nicht verharmlosen. Als Mensch habe ich für mich den Weg gefunden, Momente des Weltgeschehens als Teil meines eigenen Lernprozesses zu verstehen. Schreckliche Bilder, denen ich im Alltag begegne, betrachte ich dann sinnbildlich mit einem getrübten Blick in den Spiegel der Menschheit. Was bei mir Angst auslöst, interpretiere ich als Hinweise darauf, was wir im Umgang mit der Natur nicht begriffen haben. Aktuell kommt es mir so vor, als wäre nirgends festgeschrieben, dass die Menschheit für den Weltfrieden selbst verantwortlich ist. Wir nehmen uns stattdessen die Freiheit und gehen zusammen das Risiko ein, dass wir uns selbst umbringen. Wen erstaunt es, dass wir uns ständig die Frage stellen müssen: Was ist der Sinn meines Lebens?
Wir nehmen für uns in Anspruch, die Natur gleichzeitig ausbeuten und retten zu können.
Sind wir und unsere Natur überhaupt noch zu retten? Du lenkst von der eigentlichen Frage ab! Sie dreht sich nicht um das wir, sondern um das Bewusstsein des einzelnen Menschen, den natürlichen Lauf der Dinge, um die Geburt und das Sterben. Die Natur stellt uns eine fantastische Lebensgrundlage zur Verfügung. Sie zerstört sich nicht selbst. Deshalb geht wohl vor dem Planeten zuerst das Menschenzeitalter zu Ende. Bedenkt man, dass die Sonne vielleicht noch sechs Milliarden Jahren existiert, gleicht unser Menschenleben einem kosmischen Augenzwickern. Leider ist es zum Schaden der Menschheit, dass sie bis dato nicht in der Lage ist, im Einklang mit der Natur zu leben. Meines Erachtens als Psychologe steht die Menschheit heute vor der grossen Herausforderung, an sich selbst zu arbeiten, bevor wir für uns kollektiv in Anspruch nehmen, die Natur gleichzeitig ausbeuten und retten zu können.
Wenn ich dir zuhöre, wie du über das Menschenzeitalter nachdenkst, entsteht bei mir der Eindruck, du betrachtest das Alltagsgeschehen sinnbildlich von einer Wolke aus, die sich irgendwo zwischen Erde und Mond befindet (Illustration Titelbild). Wie kannst du gleichzeitig im normalen Alltag funktionieren? Das ist eine Schwierigkeit, mit der jeder Mensch konfrontiert ist, weil wir ganzheitliche Wesen sind und unser Leben sowohl irdische wie kosmische bzw. spirituelle – oder meinetwegen religiöse – Ausmasse umfasst. Sie aus Sicht des Bewusstwerdens zu erforschen, erfordert, den eigenen Blick nach Innen zu richten. Im Alltag führe ich dazu einen permanenten Dialog, ein lehrreicher Spagat. Meine Erkenntnisse, die ich daraus schöpfe, sind in konkreten Orten, an Objekten und durch gestalterische Formen manifest, zum Beispiel: die Telecab 2000, Stadtmobiliar, The Monument of Peace oder der Dorfplatz in meinem Heimatdorf Eggerberg. Holistisch, d.h. ganzheitlich zu denken und zu gestalten erfordert von mir den Spagat zwischen der Innen und Aussenwelt. Ich glaube deshalb nicht, dass eine nachhaltige Zukunft allein durch Technologie gelingt. Fortschritt bedeutet für mich ebenso eine tiefere Bewusstwerdung jedes und jeder Einzelnen – gerade in der Zeit der digitalen Beschleunigung von Entwicklungen und Veränderungen in unserem Alltag.
Die Zeitmaschinen wie ChatGPT bauen wir uns selbst. Sollen wir der technologischen Beschleunigung widerstehen? Schwierig. Als Menschen wollen wir mit Veränderungen mithalten können: Wir springen gerne auf den Zug der Zeit auf. Einzelne Menschen sitzen sogar vorne in der Lokomotive und scheinen tatsächlich zu wissen, wohin die Reise geht: Elon Musk ist für mich ein Lockführer. Er scheint den Zeitgeist als Unternehmer tatkräftig und erfolgreich mitzubestimmen. Seine Produkte machen ihn reich und berühmt: nicht unbedingt deshalb, weil sie die Welt retten, sondern weil sie unsere Sehnsüchte befriedigen und den menschlichen Reaktionen darauf entsprechen: Mitmachen und Gleichtun.
Gilt dieses Phänomen auch in der Architektur? Ich erinnere mich gut an Mario Botta: Auf die Frage, ob es ihn nicht kränken würde, wenn seine Bauten stilistisch kopiert würden, antwortete er mit ‘Nein’. Seine Antwort begründete er sinngemäss damit, dass es ihn ehre, wenn seine Bauten als Vorbilder gelten, und er sich dadurch in seiner Leitfunktion bestätigt fühle. Das zeigt: Die Masse der Menschen braucht einen Leithammel und eingespielte Mechanismen. Internet und Digitalisierung sind dazu segensreich, solange wir sie nicht missbrauchen. Auch hier liegt die Verantwortung bei uns selbst. Es ist aus ethischer Sicht nie gerechtfertigt, dass technisches Know-how der ganzen Menschheit Schaden zufügt. Ich glaube an gewisse Regeln des Menschseins, die nicht durch Technologie oder Religionen festgesetzt sind. Und ich bin sicher: Jeder Mensch weiss letztlich, was okay ist und was nicht.
Selbstverantwortung scheint für dich zentrales Thema zu sein. Was müsste passieren, damit die Menschen, zum Wohle aller, sich mehr mit sich selbst auseinandersetzen? Ich beobachte, dass dieser Lernprozess im Gang ist, und er findet auch kollektiv statt: Alles, was gerade in der Welt abläuft, trägt aus meiner Sicht dazu bei.
Hast du eine Idee, wohin dieser Lernprozess uns noch führen wird? Ich persönlich lebe mit einer Gewissheit, die nicht wissenschaftlich begründbar ist. Sie ist beeinflusst von der Lehre C.G. Jungs, dem Begründer der analytischen Psychologie. In Anlehnung an Jung ist der menschliche Lernprozess kosmisch bzw. natürlich bedingt. Er ereignet sich nicht nur physisch in Alltagsereignissen. Seine Wirkung zeigt sich in der Psyche, in unserem Geist und in unserer Seele. Weil dieser Prozess gemäss Jung «final», das heisst auf ein Ende hin orientiert ist, gilt es, unser Bewusstseinspotenzial auf diesem Weg auszuschöpfen. Die erste Etappe besteht darin, als Individuum die eigene Identität zu entdecken, das heisst: eigene Vorurteile zu hinterfragen, Projektionen aufzulösen, sich von seinen Unsicherheiten und Identifikationen zu emanzipieren und zu befreien. Für mich sind die Pioniere von heute diejenigen Menschen, die von sich sagen können: “Ich kenne mich.”
Die erste Etappe unseres Lernprozesses besteht darin, Vorurteile zu hinterfragen, Projektionen aufzulösen und sich von seinen Unsicherheiten zu emanzipieren.
Was würden mehr Selbstreflexion und Bewusstsein in der Architektur bewirken? Ich vermute, dass sich mehr Individualität bei den Bauten zeigen würde. Es ist dazu nicht notwendig, dass jede Architektin, jeder Architekt zusätzlich Psychologie oder Astrologie studiert. Es würde genügen, dass Architekt:innen ihre seelisch-geistige Disposition kennenlernen, dafür einstehen und baulich von innen heraus zum Ausdruck bringen. Das ist keine Anleitung zum Gewinn des Prizkerpreises, sondern vielleicht eine zum Bau von mehr zukunftsfähigen Lebensräumen. Ein kleines Beispiel: Neulich war ich im umgebauten Empfangsraum der LUKB in Luzern. Ich war überwältigt. Es herrschte dort eine entspannte Atmosphäre, meine Auge schauten sich gern um, der Empfang war freundlich. Ich fühlte mich wohl und sicher.
Ich staune, dass du dich in der Empfangshalle einer Bank wie zuhause fühlst. Es ist völlig egal, ob ein Museum oder eine Bank architektonisch gut gemacht sind. Mich interessieren aus gestalterischer Sicht auch Bunkeranlagen, die ästhetisch, funktional und atmosphärisch gelungen sind. Zum Beispiel der Atlantik-Wall in der Normandie. Die massiven Betonbauten wurden perfekt in die Landschaft integriert. Und ohne diese Zeitzeugen hätte es in den 1970er Jahren den sogenannten Brutalismus – und Paul Virilios Bunkerarchäologie – vielleicht nicht gegeben. Auch nicht die Betonkirchen von Förderer Otto Zwimpfer und anderen Schweizer Architekt:innen. Der Brutalismus als Stil in der Architektur steht für mich stilistisch und sinnbildlich für inszenierte Ehrlichkeit.
Darf man die Bedeutung von Militäranlagen ästhetisch schön reden? Jetzt sind wir wieder bei deiner Eingangsfrage nach der Moral angekommen. Wenn wir eine Sache, einen Menschen positiv oder negativ bewerten, dann hat das tatsächlich mit unserer eigenen Moral zu tun. Wenn sich gute oder schlechte Gedanken und Gefühle melden, geben wir selbst den Dingen und Menschen ihre Bedeutung und ihre Macht: Wir projizieren unserer Innenwelt sozusagen auf die Aussenwelt, auf das Gegenüber. Auf ein Bauwerk wie die Betonkirche übersetzt, bedeutet das: Wenn wir das Gebäude zuerst interpretieren und dann beurteilen, sollten wir unsere eigenen Projektionen kennen. Unsere Projektionen auf die Aussenwelt sind mit Figuren zu vergleichen, die unsere Persönlichkeit ausmachen. Und dann kommt es darauf an, wie weit uns diese Figuren bewusst sind, d.h., wie gut wir uns selbst kennen und im Stande sind, mit den Figuren, C.G. Jung nennt sie Archetypen, im Dialog zu sein: mit unserem äusseren Bild, dem Schatten unserer Persönlichkeit, den weiblichen und männlichen Aspekte sowie dem sogenannten Selbst, das für die Integration und Vollständigkeit unserer Persönlichkeit steht. Im konkreten Leben können wir damit überprüfen, wie weit unsere subjektive Wahrheit mit den objektiven Tatsachen kompatibel ist.
Das klingt nach einem komplizierten psychologischen Puppenspiel. Das ist für mich spannend und faszinierend. Durch die Beschäftigung mit meinem innenweltlichen Theater bin ich von der Tiefenpsychologie auch auf die Astrologie gestossen. Ich habe mich intensiv damit beschäftigt und schliesslich entdeckt, dass ein Geburtshoroskop ein Instrument ist, das den modellhaften Zugang zu der ansonsten nur schwierig begreifbaren seelisch-geistigen Struktur eines Menschen offenbart.
Was im unsichtbaren Innen ist, zeigt sich uns im sichtbaren Aussen. Und das sichtbare Aussen wirkt auf das unsichtbare Innen.
Ausgerechnet die Astrologie. Genau: Der Blick in die Sterne ist in meiner Arbeit gleichbedeutend wie ein Blick in die Psyche. Kurz erklärt: Ausgehend von der Archetypenlehre von C.G. Jung ist die Astrologie für mich ein zusätzliches, sehr effizientes Hilfsmittel. Menschliche Archetypen wie der Narr, der Herrscher, der Unschuldige oder der Weise sind symbolische Figuren, deren Wirkungskräfte unsere Persönlichkeit und unsere Handlungen bestimmen. In der Theorie ermöglichen sie es uns, komplexe Ideen und Emotionen auf eine Art und Weise zu kommunizieren, die intuitiv und universell verständlich ist. Mit anderen Worten: Gestalten heisst, das innere und äussere Leben zu integrieren und dadurch zu lernen. Mein Ansatz besteht darin, die individuellen planetaren Konstellationen (zum Beispiel bei der Geburt) sowie die archetypischen Wirkungskräfte in einen aussagekräftigen Bezug zu setzen. Ich beschreibe und interpretiere das Kreisen der Planeten um die Erde und das psychische Geschehen als Interaktion von zwei gleichzeitig wirksamen Prozessen.
Weshalb ist das Radix, das Geburtshoroskop wichtig? Jeder Mensch nimmt seine seelisch-geistige Grunddisposition mit auf die Welt und trägt sie das ganze Leben mit sich. Das Radix ist mit einem Skelett aus Knochen vergleichbar. Das Fleisch bestimmt der Radix-Eigner. Das Geburtshoroskop ist somit ein individuelles, analytisches Abbild der Grunddisposition und für mich ein wichtiges Kommunikationsmittel bei der Arbeit. Sein eigene Disposition wirklich ganz zu erkennen und ihr zu folgen, bleibt jedoch ein lebenslanger Lernprozess. Menschen, denen das gelingt, sterben glücklich.
Verrätst du zum Schluss noch dein persönliches Horoskop? Dein Einführungstext zu diesem Interview ist eine präzise Beschreibung davon, wie ich mein astrologisches Dispositiv bisher gelebt habe. Mein Astro-Diagramm kann so gelesen werden: Im abgebildeten Kreisschema steht die rechte Kreishälfte für die Innenwelt, die Welt der subjektiven Wahrheiten; die linke Kreishälfte für die Aussenwelt, die Welt der objektiven Tatsachen. In meinem Diagramm befinden sich in der rechten Kreishälfte sieben von elf archetypischen Wirkungskräften. Die Konstellation zeigt meine Introvertiertheit. Die obere Kreishälfte steht für den Kosmos, die untere für die Erde. Das Schema zeigt ein Spannungsfeld: sechs archetypische Wirkungskräfte ziehen ins geistig-spirituelle Universum, fünf in die Tiefen der gefühlsbetonten Sinnlichkeit des Erdhaften.
Betrachten wir nun das Schema aus Sicht des Sonnenlaufs: Auf der horizontalen Achse findet links der Sonnenaufgang statt. Dort steht das Zeichen des Wassermanns: Imesch, der Individualist, Revolutionär und Visionär will sich durchsetzen. Im Zenith steht das Zeichen Skorpion. Es ist das stärkste Zeichen im Zodiak. Seine Leidenschaft ist das unaufhörliche Hinterfragen. Der Sonnenuntergang findet rechts im Zeichen Löwen statt, mit der dem Wassermann entgegengesetzten Energie, das heisst: Der Revolutionär besteigt den Thron. Am tiefsten Punkt des Astro-Diagramms steht die Fruchtbarkeit im Sternzeichen Stier.
Vielen Dank für das Gespräch.