Die ökologischen Prognosen für Mexiko-Stadt gleichen einem Untergangsszenario: Die Grundwasserreserven, die derzeit rund 70 % des Wasserbedarfs der 9-Millionen-Metropole decken, werden in den nächsten fünf bis zwanzig Jahren erschöpft sein. Mit dem sinkenden Grundwasserspiegel verliert auch das Fundament der Stadt zunehmend an Stabilität. Diesen Aussichten zum Trotz präsentiert sich Mexiko-Stadt als boomende Welt- und Kulturstadt: Ist das Ignoranz oder Resilienz? Ein Augenschein vor Ort.
Gastbeitrag und Bilder von Lucas Caluori
Die Wasserfontänen im Einkaufsparadies Artz Pedregal sprudeln vor sich hin, leihen der vom chinesischen Starkünstler Ai Weiwei geschaffenen Plastik aus goldenen Fahrrädern die passende Kulisse. In den geometrisch eingerahmten Wasserbecken spiegeln sich die Leuchtschriften von Luxus-Boutiquen: Louis Vuitton, Dior, Gucci, Prada. Auch eine der weltweit 28 Edelfilialen von Starbucks Reserve lässt sich hier finden, dazu ein Bowlingcenter, zwölf Kinosäle, 100’000 m2 Büroflächen und eine riesige Parkanlage in der Mitte des Komplexes. Aus den Musikboxen rauscht amerikanischer Pop, auf den saftig grünen Wiesen liegen eng umschlungen jugendliche Verliebte. Das von Sordo Madaleno Arquitectos entwickelte und 2018 eröffnete Megaprojekt sei unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten entworfen worden: Es soll den öffentlichen Raum erweitern und kollektive Interaktionen fördern.[1] Lokale Medien kritisierten den Bau hingegen als «Simulation urbaner Erfahrungen», die eigentlich auf den Strassen und nicht in einem von Wachen umstellten Einkaufszentrum stattfinden sollten.[2] Die Besucher:innen scheint diese Kritik genauso wenig zu stören wie der alles überlagernde Konsumimperativ: Die Kinosäle wie auch der Starbucks Reserve sind voll.
Das Artz Pedregal steht exemplarisch für die Aufwertung der Mega-Metropole und zeigt: Mexiko-Stadt boomt und verfällt trotz des drohenden Verlusts der wichtigsten Lebensgrundlage nicht in eine Depression. Die Stadt offenbart damit ein urbanistisches Oxymoron, eine Lebenswelt, die widersprüchliche Entwicklungen auf engstem Raum vereint. Aus europäischer Sicht stellt sich die Frage: Wie kann Stadtentwicklung gelingen, wenn die Aussichten düster, die Spannungen gross und die Planungsinstanzen schwach sind?
Kosmopolitische Trendviertel
Genauso augenfällig, aber sehr viel hipper und weniger posh, zeigt sich dieser Boom in den Trendvierteln Roma Norte und La Condesa. Rund um die kreisförmige und von üppigen Palmen gesäumte Avenida Ámsterdam oder den mit einer David-Replika bestückten Plaza Río de Janeiro gleicht das Leben einer urbanen Vision postmoderner Wohlstandsgesellschaften: An der Strassenecke essen Pflegepersonal und Bankangestellte Quesadillas von Jenni’s Streetfood-Stand, im Café Señor Croissant halten digitale Nomaden Zoom-Meetings ab, und im Parque México übt ein Paar Salsa-Schritte. Trendige Cafés mit Matcha und Hafermilch-Cappuccinos, versteckte Concept Stores mit stetig wechselndem Sortiment und schicke Kunstgalerien mit Werken von James Turell oder Alicja Kwade reihen sich hier aneinander. Die NZZ beschrieb Roma Norte kürzlich als «Tummelplatz hipper Einheimischer und gut informierter Kosmopolitinnen».[3] Tagtäglich schiessen neue Restaurants aus dem Boden und sorgen für eine Fülle kulinarischer Möglichkeiten: neapolitanische Pizza bei Félix, moderne Neuinterpretationen mexikanischer Gerichte in der ehemaligen Autowerkstatt im Voraz, 24/7 Ramen bei Deigo.
Während das Essensangebot für (fast) alle Portemonnaies etwas zu bieten hat, sind die Mietpreise in diesen Vierteln explodiert: Eine 3-Zimmer-Wohnung gibt es hier kaum mehr unter 2’000 Franken – ob in einem Neubau oder einem schmucken aber meist spärlich ausgestatteten Art-déco-Gebäude.
Die Kritik an der rasanten Gentrifizierung ist inzwischen weitgehend verstummt, die «Gringo go home»-Graffitis sind verschwunden. Die Wohnungskrise allein den Zugezogenen anzulasten, würde auch zu kurz greifen. Vielmehr sind es strukturelle Probleme – überteuerte Baumaterialien, willkürliche Behördengebühren und fehlende Stadtplanung – die den Bau von erschwinglichem Wohnraum erschweren. Umso beeindruckender ist es, wie die Quartiere Roma und Condesa innerhalb eines Jahrzehnts zu den angesagtesten Vierteln heranwuchsen. Die Metropole kann in ihrer Beliebtheit problemlos mit städtischen Sehnsuchtsorten wie London, Tokyo oder Zürich mithalten. Auch in Sachen Instagrammability ist CDMX, wie die Einheimischen ihre Ciudad de México abkürzen, ganz vorne mit dabei, davon zeugen die hier zahlreich lebenden Influencer:innen. Von den Problemen Mexikos, von Kriminalität, Korruption, Armut oder Wasserknappheit ist hier wenig zu spüren. Einzig das verheerende Erdbeben von 2017 und der stetig sinkende Grundwasserspiegel hinterlassen auch hier sichtbare Spuren: Schiefstehende Gebäude und behelfsmässig gestützte Balkone mahnen stillschweigend an die im Untergrund der Stadt schlummernden Gefahren.
Mannigfaltige Gefahren, kaum Lösungen
Die Architektin Elena Tudela Rivadeneyra, ausserordentliche Professorin an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) und Mitbegründerin eines Studios für Stadt- und Landschaftsplanung, hat sich intensiv mit den Gefahrenlagen und Vulnerabilitäten der Stadt auseinandergesetzt. Die Studie, die ihr Büro für urbane Resilienz im Jahr 2020 durchgeführt hat,[4] identifiziert drei grosse Herausforderungen: Erstens steht ein Grossteil der Metropole auf einem ehemaligen Seengebiet, dessen Trockenlegung paradoxerweise gleichzeitig zu periodischen Überschwemmungen und Wasserknappheit führt. Zweitens liegt Mexiko-Stadt auf 2’240 Metern über Meer in einem seismisch aktiven Vulkangebiet. Erdbeben wie 1985 und 2017 können jederzeit erneut auftreten. Und drittens ist die Stadt geprägt von einem starken sozialen Gefälle, insbesondere zwischen den östlichen und westlichen Stadtteilen.
Diese Herausforderungen spiegeln sich im Alltag der Chilangos, wie sich die Stadtbewohner:innen selbst nennen: Ausserhalb der Regenzeit, die mit dem Klimawandel immer weniger intensiv ausfällt, bleiben viele Wasserhähne zusehends trocken. Oder das Leitungswasser riecht, wie in diesem Frühling in der vergleichsweise gut unterhaltenen und wohlsituierten Colonia del Valle, plötzlich während Wochen nach Diesel. Teure Wasserlieferungen durch Tankfahrzeuge – gut erkennbar an ihrer Aufschrift «Agua Potable» und in der Stadt inzwischen omnipräsent – bleiben dann oft die einzige Lösung.
Die Wasserkrise in Mexiko-Stadt ist nicht nur ökologischer Natur und auf den Klimawandel zurückzuführen, sondern auch die Folge einer maroden Infrastruktur: Etwa 40 Prozent des Wassers gehen durch Lecks in Leitungen verloren. Ein Teufelskreis, denn der immense Wasserverbrauch lässt den Grundwasserspiegel absinken – und mit ihm grosse Teile der Stadt, jährlich bis zu 50 Zentimeter, was wiederum Schäden an der Infrastruktur verursacht. Strassen und Gehwege zeigen das Ausmass der Problematik, sie erinnern oft an einen Hindernislauf, sind gespickt mit Schwellen, Abrissen und schiefen Platten. Die blau-weissen Schilder, die Rollstuhltauglichkeit signalisieren, wirken zuweilen wie Hohn. Die notwendige Erneuerung der Infrastruktur ist nicht nur aus Kostengründen unmöglich: Bei grösseren Bauarbeiten droht dem fragilen Verkehrssystem, der Schlagader der Stadt, der Kollaps. Die Möglichkeiten für Sofortmassnahmen, räumt Elena Tudela Rivadeneyra ein, sind begrenzt und werden nicht ausreichen. Entsprechend brauche es langfristige Strategien – und hier hat die Architektin konkrete Vorschläge: wasserintensive Industrien aus der Stadt verbannen, Asphaltflächen reduzieren um mittels Versickerung den Grundwasserspiegel zu stabilisieren und Abwasseraufbereitungsanlagen in den Siedlungen installieren. Dazu wären politischer Wille und ein Umdenken in der Bevölkerung notwendig. Immerhin, so stellt Elena Tudela Rivadeneyra vorsichtig optimistisch fest, finde dieser Wandel nun statt: Städte und Gesellschaften reagieren eben dann, wenn die Probleme für alle spürbar werden. Mexiko-Stadt stellt da keine Ausnahme dar.
Die Angst vor dem leeren Wasserglas
Während einige Gebiete der Stadt seit Jahrzehnten mit Wasserknappheit und schlechter Wasserqualität leben, weiten sich diese Probleme nun stetig aus. Die Aussichten für die städtische Wasserversorgung sind höchst besorgniserregend: «What’s really scary is the possibility of Day Zero for the aquifer, because it provides 70 percent of the water we consume. It’s like a glass where you sip water every day – eventually, it will run out», so Elena Tudela Rivadeneyra.[5] In den benachteiligten Stadtvierteln, etwa in Iztapalapa oder Nezahualcóyotl, weiss man längst um den Wert des raren Guts und pflegt einen entsprechend sorgsamen Umgang.[6] In bessergestellten Gegenden hingegen beginnen die Wasserleitungen gerade zu versiegen, da wird das Problem erst realisiert. So kommt es, dass die Stadt gemäss einer UN-Studie[7] einen durchschnittlichen Wasserverbrauch von 366 Litern pro Person und Tag aufweist, in Privathaushalten gar 567 Liter. Das ist etwa doppelt so viel wie in der Schweiz.
Etwa 40 Prozent des Wassers gehen durch Lecks in Leitungen verloren. Die Angst vor dem Day Zero nimmt zu in Mexiko-Stadt.
In den Cafés in Roma und Condesa ist von den düsteren Prognosen nichts zu vernehmen: Es wird weiter an kreativen Chai-Kreationen genippt, Hunde – viele Hunde – werden durch sattgrüne Parks geführt, oder im vom Guide Michelin gelisteten Botánico werden Muscheln verspeist, die täglich direkt aus dem 2’800 Kilometer entfernten Küstenort Ensenada angeliefert werden. Diese absurde Gleichzeitigkeit hat eine gewisse Faszination: Die existenzielle Wasserkrise ist greifbar nah, aber die Stadt floriert und erlebt einen beeindruckenden Modernisierungs- und Popularitätsschub. Wie kommt es, dass Mexiko-Stadt sich angesichts des drohenden Wassernotstands bislang kaum aus der Ruhe bringen lässt?
Es liegt womöglich an einer gewissen Krisenerfahrung: In der leiderprobten Stadt ist der Glaube daran, dass Katastrophen, Überschwemmungen und Erdbeben überwunden werden können, tief verankert. So kommt auch die von Elena Tudela Rivadeneyra mitverfasste Studie zum Schluss, dass der Schlüssel für die Zukunft nicht nur in der Prävention liegt, sondern vor allem in der kollektiven Resilienz. Sie fordert eine Stärkung des Bewusstseins für Risiken und der Fähigkeit, die eigene Verletzlichkeit zu verringern. Damit beruft sich die Studie auf die Vergangenheit der Stadt: Die Geschichte der Ciudad de México – sie ist im Wesentlichen eine Geschichte der Resilienz. Doch zur Widerstandsfähigkeit hat sich inzwischen noch eine zweite, für die Stadt charakteristische Eigenschaft dazugemischt: ein Anflug von Resignation, eine Akzeptanz der eigenen Machtlosigkeit – sei es gegenüber Naturgewalten, einer mächtigen Finanzelite, dysfunktionalen Institutionen oder einer korrupten Politik.
Der Umgang mit dem Ende
Es ist diese Mischung aus einem starken Glauben an die eigene Resistenz – «komme, was wolle» – und dem Abwälzen der Verantwortung – «was kann ich schon tun» –, die das Alltagsleben in den Trendvierteln der Hauptstadt Mexikos derart unbeschwert erscheinen lässt. Für das individualistisch-europäische, insbesondere helvetische Selbstverständnis, das vom Credo der Eigenverantwortung und einem grossen Sicherheitsbedürfnis geprägt ist, wirkt diese Haltung erschreckend und verlockend zugleich.
Während westliche Städte krampfhaft und mit altruistischer Attitüde bemüht sind, Nachhaltigkeit ins Zentrum ihrer Entwicklung zu stellen, steuert Mexiko-Stadt scheinbar unbeirrt und voller Vitalität ihrem eigenen Untergang entgegen. Anstelle von gut gemeintem Umweltaktivismus findet man hier – sofern man es sich leisten kann – hemmungslosen Konsum. Kein Wunder, wirkt Mexiko-Stadt auf gutsituierte, westliche Millennials bisweilen wie eine mentale Wellness-Oase, wo Verzicht kein moralisches Gebot, sondern ein Zeichen von Armut ist. Wo sonst gibt es noch urbanen Genuss und Vergnügung ohne ein schlechtes Gewissen?
Genuss und hemmungsloser Konsum stehen auch im Artz Pedregal an oberster Stelle: ein Garten Eden inmitten der von irdischen Problemen geprägten Millionenstadt. Die Vertreibung aus diesem Paradies mag kommen, doch ist dies in Mexiko kein Grund, es weniger zu geniessen. Vielleicht gründet die mexikanische Gelassenheit angesichts der existenziellen Bedrohung auch im für westliche Länder schwer verständlichen Totenkult. In Mexiko wird mit dem Tod anders umgegangen – das zeigt sich am jährlich gefeierten Día de los Muertos genauso wie an der zunehmenden Beliebtheit der Sensenfrau La Santa Muerte, früher Schutzpatronin der Unterwelt und von der katholischen Kirche bis heute als scheusslicher Aberglaube verteufelt. Auch im Artz Pedregal offenbarte die paradiesische Simulation weltliche Risse, als das Gebäude 2018 kurz nach seiner Eröffnung teilweise einstürzte. Das Gebäude wurde rasch wieder aufgebaut, vom Vorfall ist längst nichts mehr zu sehen – für La Santa Muerte gibt es keine Sünden.
Verwendete Quellen:
[1] Bericht auf ArchDaily, 27. April 2016, Daniela Cruz: https://www.archdaily.mx/mx/786408/artz-pedregal-un-nuevo-centro-urbano-al-sur-de-ciudad-de-mexico-disenado-por-sordo-madaleno-arquitectos.
[2] Bericht auf proceso.com, 10. April 2018, Por Blanca González Rosas: https://www.proceso.com.mx/arte/2018/4/10/artz-pedregal-mas-de-lo-mismo-202926.html.
[3] Artikel im NZZ Bellevue, 05.09.2024, Patricia Engelhorn: https://bellevue.nzz.ch/reisen-entdecken/destinationen/roma-norte-in-mexiko-stadt-die-besten-adressen-fuer-bars-restaurants-und-hotels-ld.1846694.
[4] Studie von ORU – Oficina de Resiliencia Urbana, 2020, «Ciudad Resiliente: Retrospectiva y Proyección de una Ciudad (In) Vulnerable», im Auftrag des städtischen Sekretariats für integrales Risikomanagement und Katastrophenschutz von Mexiko-Stadt: https://www.dropbox.com/s/nxjpkqvpbysaxnz/20210202_DIGITAL.pdf?e=2&dl=0.
[5] Artikel auf Al Jazeera, Nick Hilden, 11.05.2024: https://www.aljazeera.com/features/2024/5/11/mexico-city-is-sinking-running-out-of-water-how-can-it-be-saved.
[6] Artikel auf Spiegel.de, Sonja Peteranderl, 29.08.2020: https://www.spiegel.de/ausland/mexikos-wasserkrise-wie-ein-hippie-projekt-eines-der-groessten-probleme-loesen-koennte-a-1d3607fa-16e5-45ee-bc01-dc6c94dd4701.
[7] Studie von UN-Habitat, 22.03.2021: https://onu-habitat.org/index.php/comprender-las-dimensiones-del-problema-del-agua?fb_comment_id=1919706488040991_2396617700349865#:~:text=Por%20ejemplo%2C%20el%20consumo%20promedio,promedio%20por%20habitante%20al%20día.