Die Jugendherberge Scuol hat den Award für Marketing und Architektur 2010 gewonnen. Hinter dem Erfolg stehen die Verantwortlichen der Schweizerischen Stiftung für Sozialtourismus, ZürichDas Büro für Stadtfragen hat bei René Dobler, Architekt ETH und Geschäftsleiter der  Stiftung nachgefragt, was das genau bedeutet (Interview_Dobler_pdf):

Herr Dobler: Was hat Sozialtourismus mit den Vorstellungen von Produktemarketing gemeinsam?

Auch Sozialtourismus braucht Marketing. Bei den Schweizer Jugendherbergen versuchen wir sowohl beim Marketing wie auch bei der Architektur entsprechend den Wertvorstellungen unserer Organisation zu denken und zu handeln. Weder das eine noch das andere soll zum Selbstzweck werden oder sich vom Grundauftrag absetzen.

Wie äussert sich das im Umgang mit Architekturaufgaben innerhalb der Stiftung?

Unser Bauleitbild basiert auf dem Unternehmensleitbild. Die Ansprüche an die Architektur sind dieselben wie an die Dienstleistungen im Betrieb oder an das Marketing. Es werden dieselben Ziele verfolgt, nur mit andern Mitteln. Sie sehen das am Beispiel der Ökologie: Wir arbeiten mit den höchsten, messbaren und gängigen ökologischen Labels. Im Betrieb sind dies das EU-Umwelt- und das Steinbocklabel, beim Bauen sind dies Minergie- und Ecolabel. Das Marketing schreibt keine abgehobene Geschichte darüber, sondern berichtet bei Gelegenheit über die effektiven Leistungen.

Ihre Selbstdarstellung spricht von Werten wie «Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit». Die Jugendherbergen geben sich «lokal, sozial, nachhaltig, menschlich und preiswert». Woran erkennen Sie, dass ihre Architektur «grundehrlich» ist?

Ehrliche Architektur widerspiegelt in hohem Masse die Werte und Inhalte ihres eigentlichen Nutzens. Widerspricht oder überhöht die Architektur ihre Aufgabe, verselbständigt sie sich und gibt etwas vor, das nicht ist. Das kann in bestimmten Situationen angebracht sein, aber nicht beim Umbau oder Neubau einer sozialtouristischen Jugendherberge.

Was hat in den 90erJahren den neuen Qualitätsprozess beim Umbauen der Jugendherbergen ausgelöst. Welches waren die Hauptargumente?

Auslöser war die Fusion mehrerer regionaler Vereine zu einer gesamtschweizerischen Organisation. Damals initiierte der Präsident und ETH-Architekt Alain Paratte ein Bauleitbild. Dieses Bauleitbild wurde dann an der Jugendherberge Grindelwald getestet und wird seither durch ein stabiles Team kontinuierlich umgesetzt und weiterentwickelt. Das wichtigste messbare Hauptargument am Anfang war: Gute Architektur ist nicht teurer als schlechte. Seither beweist auch die wesentlich höhere Auslastung der einzelnen Jugendherbergen, dass dieses Argument stimmt. Finanzen sind immer ein schlagendes Argument: Was will man mehr als geringere Kosten bei höherem Ertrag?

Sehen Sie einen Unterschied zwischen Bauen und Architektur?

Ich denke, der Schritt vom Bauen zur Architektur passiert über die Auseinandersetzung mit Raum und Gestalt. Architektur bedarf eines klaren Gestaltungswillens, der vom Entwerfen bis zur Realisierung verfolgt wird. Ohne das planende Denken ist Bauen reine Funktionserfüllung und wird nie zu Architektur.

Wie finden Sie die richtigen ArchitektInnen? Welche Eigenschaften haben diese gemeinsam?

Mit Hilfe eines breiten und angemessenen Auswahlverfahrens. In Scuol haben wir alle regionalen und ein paar ausgewählte Büros aus dem übrigen Kantonsgebiet für eine Bewerbung eingeladen. Dann haben wir mit fünf Teams einen Wettbewerb durchgeführt. Unsere ArchitektInnen sind alle eher jung, und sie interessieren sich für aktuelle Werte und deren Übersetzung in gebauten Raum.

Kommen auch ausländische ArchitektInnen in Frage?

Wir setzen uns für eine moderne und regional verankerte Architektur ein. Die Authentizität des Ortes beginnt für uns bei regional verankerten Gestaltern, die den Ort kennen. Es gibt überall in der Schweiz genügend gute ArchitektInnen, womit sich eine Suche im Ausland für unsere Bauaufgabe erübrigt.

Mit welchen Architekt/innen möchten Sie unbedingt noch eine Jugendherberge bauen?

Mit uns noch unbekannten, jungen, visionären, engagierten ArchitektInnen, die von der Idee der Jugendherbergen überzeugt sind und die uns mit ihren Ideen überzeugen – so wie zuletzt Buchner Bründler Architekten bei der Jugendherberge in Basel.

Die neue Jugendherberge in Scuol erinnert, je nach Ansicht, an ein Stück Käse mit Löchern und Einschnitten oder an plakativ bündnerischen Heimatstil mit Engadinerfenstern – ein typisch schweizerischer Kompromissbau stilisiert in einem zeitgemässen Tourismus-Marketingkleid also. Lassen Sie diese Kritik gelten?

Ihre Beschreibung entspricht in keiner Art und Weise den gestalterischen Absichten. Die Jugendherberge Scuol ist ein moderner Bau, der traditionelle Elemente wie die Stüva oder das tief eingeschnittene Engadinerfenster spielerisch einbaut. Das ist kein Kompromiss, sondern ein gestalterischer Wille, welcher mit hohem Selbstvertrauen Tradition und Moderne verknüpft. Gerade deshalb kann sich der Bau von Ihrer Überzeichnung möglicher Assoziationen abgrenzen. Die Schweizer Jugendherbergen wollen in Bau und Marketing ihren unternehmerischen Zielen gerecht werden. Deshalb betreiben wir Marketing und Architektur ohne schreierisch zu werden, oder mehr zu versprechen als wir anbieten.

Die Unterkunftsbranche ist kurzlebig, sie muss sich schnellen Trends anpassen. Mit Preisen wie dem Marketing-Award bewegt sich die Stiftung nun in diesem Trendmarkt. Auf wie viele Jahre hinaus planen und realisieren Sie die Jugendherbergen?

Unsere Organisation besteht seit 86 Jahren, unser aktuelles Bauleitbild seit 17 Jahren, in Scuol vergingen von der Idee bis zur Fertigstellung zehn Jahre. Zeitgemäss zu sein, ist für eine Organisation mit so langer Geschichte wichtig; trendig zu sein, wäre für uns ein Eigentor. Unser Bauen ist langfristig, unsere Materialwahl ist langfristig. Unser Erneuerungszyklus von 25 Jahren verbietet uns geradezu, kurzfristig zu gestalten. Marketing hat den Ruf des Kurzfristigen, Kurzlebigen – der Award Marketing und Architektur zeigt nun aber, dass Architektur und Marketing auch dann gewinnen, wenn sie langfristig miteinandergehen.

Sie reden in Ihrem Auftritt von Aktivitäten in der Tourismusforschung. Was sagt die Forschung über die künftige Bedeutung der Architektur?

Forschung ist etwas hoch gegriffen. Wir versuchen in all unseren Tätigkeitsgebieten auf dem Stand der Dinge zu sein und dies mit einer visionären Haltung zu ergänzen. Die Bedeutung der Architektur im Tourismus, oder enger gefasst in der Hotellerie, war meiner Meinung nach immer gross, denn für das Zuhause auf Zeit bevorzugt jeder Gast ein authentisches, identifizierbares Gebäude, das ihn innert Kürze heimisch werden lässt. Die Globalisierung verstärkt dieses Bedürfnis mit Sicherheit. Fraglich ist jedoch, ob der grossen Nachfrage auch ein entsprechendes Angebot gegenübersteht. Die Hotellerie ist hier wohl oft betriebsblind und kann den eigentlichen Architekturaufgaben nicht gerecht werden.

Passt die Marketing-Architektur der Jugis eigentlich noch zum Image der günstigen Familien-Unterkunft? Bauen Sie künftig vor allem für internationale Single-Reisende?

Wir bauen für ein vielfältiges Publikum, das vom klassischen Backpacker, der inzwischen mit dem Rollkoffer vom Billigflug kommt, über Schulklassen und Familien bis zum wandernden Senioren reicht. Das schützt uns davor, für DEN GAST zu bauen. Wir bauen für weltoffene, kontaktfreudige, umweltbewusste, sozialverantwortliche Reisende mit kleinem Portemonnaie. Dies verlangt nach einer kostengünstigen Architektur, die ein hohes Mass an architektonischen und gesellschaftlichen Werten zum Ausdruck bringen muss.

Die Pressebilder zum Neubau in Scuol erinnern an ein Ambiente für Leserinnen und Leser der Annabelle. Ergänzen Sie ihre Unterkunftskategorien «simple», «classic» und «top» nun mit «Flagships»?

Unsere drei Kategorien sind vollkommen ausreichend, und wir haben bereits Flagships in top, classic und simple. Wenn sich auch Annabelle-Leser und -Leserinnen für unsere Jugendherbergen interessieren, ist das weniger unser Ziel, jedoch mehr Ausdruck dafür, dass sich ein enorm breites Publikum durch unser Angebot angesprochen fühlt.

Möchten Sie noch etwas anmerken?

Ich bedanke mich für die herausfordernden Fragen.

(Das Interview wurde per E-Mail durchgeführt.)